SZ: Die Bahn sucht verzweifelt Fahrgäste. (Sammelthreads)

ICE619, München, Samstag, 19.06.2021, 13:23 (vor 1632 Tagen) @ Barzahlung

Den Quellenlink gab Henrik ja schon an.

Es sollte vergangene Woche eigentlich so richtig losgehen auf Gleis 1 des Berliner Hauptbahnhofs. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier taufte feierlich den neuesten ICE der Bahn auf den staatstragenden Namen "Bundesrepublik Deutschland". Konzernchef Richard Lutz sah das als Startschuss für einen Neuanfang im Sommer, denn das überlange Flaggschiff soll so viele Passagiere transportieren wie kein anderer Zug vor ihm. "In den nächsten Monaten bringen wir Deutschland wieder in Bewegung", kündigte Lutz an. Neue Zahlen aus dem Konzern zeigen jedoch, dass sich die Bahn in den vergangenen Monaten vor allem in eine Richtung bewegt hat: rückwärts.

Aufsichtsräte und führende Manager bekamen zuletzt die ungeschminkte Wahrheit präsentiert. Denn "per April" brachen die Fahrgastzahlen im Vergleich zum Vorjahr ein. Im Fernverkehr zählte der Konzern mit 15,6 Millionen Passagieren in den ersten Monaten 2021 mehr als 50 Prozent weniger als im gleichen Zeitraum 2020. Im Regionalverkehr ging das Fahrgastaufkommen um gut 40 Prozent auf 278 Millionen Reisende zurück. Allein das Transportaufkommen bei der Güterbahn stieg leicht um fünf Prozent. Die Ziele im Personenverkehr für das Gesamtjahr seien durch die "anhaltenden Corona-Einschränkungen in Gefahr", heißt es in Papieren, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen. Die Reiselust der Deutschen unterbot damit noch die ohnehin schon reduzierten Pläne des Unternehmens.

Beunruhigt registriert die Bahnspitze auch, dass die Pünktlichkeit der Züge und damit auch der Komfort für die Passagiere erneut ab- anstatt zunimmt. Mit 80,8 Prozent waren im Mai gerade mal gut vier von fünf Zügen pünktlich - fünf Prozent weniger als im gleichen Vorjahresmonat. Bei der Güterbahn kamen im Mai sogar nur 73 Prozent der Züge pünktlich ans Ziel - 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Eigentlich will die Bahn ihre Kunden in den ICEs und Unternehmen, die ihre Produkte transportieren lassen wollen, mit besseren Angeboten in die Züge locken.

Die schwachen Zahlen haben nicht nur massive Konsequenzen für die Bilanz des Konzerns. Denn schon jetzt bahnen sich tiefrote Zahlen an. Bis Mai lag das Minus (Ebit) bei 1,5 Milliarden Euro. Insider erwarten, dass die Bahn die für dieses Jahr erwarteten Verluste von zwei Milliarden Euro wohl übertreffen wird. Die schon jetzt rekordverdächtig hohen Schulden von zuletzt 29,3 Milliarden Euro sollen bis 2023 auf fast 32 Milliarden Euro steigen und erst danach wieder leicht sinken. Denn zumindest für den Rest des Jahres und erst recht für das kommende Jahr hofft die Bahn auf viel mehr Reisende. Der Konzern wollte die Zahlen am Freitag nicht kommentieren.

Die Daten machen auch klar, dass die deutsche Verkehrs- und Klimapolitik ernste Probleme bekommt. Denn die Regierung will die Fahrgastzahlen bis Ende des Jahrzehnts eigentlich verdoppeln, um die eigenen Klimaziele zu erreichen. Schon 2020 gab das Verkehrsministerium von Andreas Scheuer (CSU) die Parole aus, 2030 müssten 260 Millionen Passagiere im Fernverkehr mit der Bahn fahren. Doch im vergangenen Jahr stiegen nur 80 Millionen ein. Insider halten das Ziel bis 2030 kaum für schaffbar.

Monatskarten sind künftig womöglich schwerer verkäuflich.

Wie groß die Probleme im System der Bahn sind, machte am Freitag eine in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte, aber für den Nahverkehr entscheidende Organisation klar. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs (BAG-SPNV) schlug Alarm. Es sei unter den aktuellen Bedingungen nicht zu schaffen, die Fahrgastzahlen bis 2030 zu verdoppeln. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft sind bundesweit dafür zuständig, im Auftrag von Ländern und Kommunen den Regionalverkehr bei Eisenbahnunternehmen zu bestellen. Gemeinsam sind sie damit Großkunde der Bahn. Die Organisation forderte vom Bund wegen der schweren Krise und klammer Kassen zusätzliche elf Milliarden Euro in den nächsten Jahren, um die Fahrgäste wieder in die Bahnen zu holen.

Die Bahn selbst hofft nun auf das Auslaufen der Corona-Maßnahmen und den Effekt der zunehmenden Impfung. Nach den Lockerungen erwartet der Konzern einen "sprunghaften Reiseanstieg". Den will die Bahn auch mit "Marketing- und betrieblichen Maßnahmen" fördern. Auch der Konzern weiß, dass sich beim Reiseverhalten gerade einiges ändert. Die Bahn plane "neue Angebote wie 10er-Tages-Tickets", um auf die "veränderte Nachfrage im Pendlersegment" zu reagieren, heißt es in den Papieren. Schließlich können viele Mitarbeiter auch nach der Pandemie häufiger im Home-Office arbeiten - Monatstickets würden dann schwer verkäuflich. Und zumindest auf lange Sicht können Urlauber auf neue Trassen hoffen. Von 2024 an soll es etwa eine Direktverbindung zwischen Berlin und Paris geben, 2026 auch zwischen München und der französischen Hauptstadt.

Unsicher bleibt allerdings, ob sich die Bahnreisenden schon in diesem Sommer wirklich auf unbeschwerte Reisen mit dem Zug freuen können. Die Lokführergewerkschaft GDL drohte gerade erneut mit massiven Streiks in den kommenden Wochen - härter und länger als in der Vergangenheit.


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