[FR] Les Côtes de France – 6/8 (40 B. ~ 4 MB) (Reiseberichte)

Pfälzer, Sonntag, 19.06.2022, 16:22 (vor 639 Tagen) @ Pfälzer

Als ich das Hotel am Morgen verlasse, ist von rauem Wind auf der Straße kaum etwas zu spüren. Auch am Bahnhof lässt es sich ganz gut aushalten, zumindest so, wie man das Anfang April auch erwarten könnte. Es muss sich auch aushalten lassen, denn mein erster Zug heute wird mit Verspätung angekündigt. Der Grund dafür ist eine Verspätung aus Vorleistung. Genau genommen handelt es sich dabei sogar um eine nicht im Fahrplan aufgezeigte Durchbindung. Mein Zug, ein Régiolis, kommt mit einer Horde von Fahrgästen ca. 5 Minuten nach der planmäßigen Abfahrtszeit aus Richtung Nordwesten in den Bahnhof eingefahren. Wo er genau herkommt habe ich mir leider nicht notiert. Die Weiterfahrt erfolgt jedenfalls erst, nachdem alle eingestiegen sind und ein Güterzug noch durchgelassen wurde. Mit +10 verlassen wir Toulouse in Richtung Südosten. Soweit ich das beobachten kann ist keiner der Fahrgäste aus der Vorleistung im Zug sitzen geblieben. In dem Fall ist es zur flexibleren Betriebsführung schon sinnvoll, solche „zufälligen“ Durchbindungen nicht zu beauskunften.

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6-1 Morgendliche Stimmung in Toulouse – der Zug lässt indes auf sich warten…

Heute stehen einige Halte im Süden des Landes auf dem Plan. Wir sind schon auf dem Weg zur ersten Station, der Stadt Carcassonne. Viele kennen möglicherweise das bekannte Brettspiel, bei dem man sich aus verschiedenen Modulen eine möglichst stabile Festung zusammen bauen soll. Diese Festung hat ein reales Vorbild und das thront hoch über der gleichnamigen Stadt im Tal der Aude. Trotz der anfänglichen Verspätung erreichen wir Carcassonne mit nur 2 Minuten Verspätung. Das beweist einmal mehr, dass die französischen Fahrpläne allgemein und dabei besonders die Haltezeiten sehr großzügig ausgelegt sind.

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6-2 Régiolis in Carcassonne – mir gefällt ja die rote liO-Farbgebung der Region Occitanie von allen TER-Designs am besten

Die Burg erreicht man von der darunter liegenden Stadt aus über die Pont Vieux („alte Brücke“), die den Fluss Aude quert. Auf der Brücke besteht ein sehr schöner Ausblick auf die Burg im Ganzen. Es folgt am anderen Ufer ein steiler Aufstieg entlang der Außenanlagen der Festung, die ich durch die passend benannte Porte de l’Aude betrete. Schon während des Aufstiegs wird mir dann klar: Es herrscht nicht nur ein starker Wind, sondern Sturm! Damit ist nun endgültig geklärt, was in der Nacht die Geräusche vor meinem Zimmer im 8. Stock ausgelöst hatte. In der mittelalterlichen Burg selbst ist es dann windstill. Die Burg versprüht einen ursprünglichen und historischen Charme, wahrscheinlich auch, weil ich in der Nebensaison und am frühen Vormittag hier vorbei schaue. Die Burg wird zu dieser Zeit nicht von Touristen überrannt und das historische Flair ist damit auch nicht durch Souvenirgeschäfte etc. getrübt. Die Burg verlasse ich anschließend durch das gegenüberliegende Tor, die Porte Narbonnaise. Das passt auch gut, denn die Pforte gibt schon gleich die weitere Reiserichtung an. Für die Rückfahrt zum Bahnhof nutze ich einen Stadtbus, dessen nächste Haltestelle ausgerechnet vor dem örtlichen Knast liegt. Das stelle ich mir irgendwie zynisch vor: Da haben die Knackies den ganzen Tag Ausblick auf eine Festung, in der ihresgleichen im Mittelalter im Kerker elendig verhungert sind. Hoffentlich lernen sie wenigstens draus. Beim Warten auf den Bus überprüfe ich online noch kurz, wie viel die Fahrkarte nun kostet, um mein Bargeld zu richten. Haltestellenaushänge sind nämlich auch in Frankreich längst überbewertet! Dabei finde ich zufällig auf der Webseite des Betreibers einen Hinweis, dass mehrere Départements im Süden zu einer Sturmwarnzone gehören und daher Beeinträchtigungen im Linienverkehr möglich wären. Gut, dass das mit dem Sturm nun auch offiziell ist. Der Bus kommt aber trotzdem, sodass ich noch pünktlich zur Weiterfahrt am Bahnhof ankomme.

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6-3 Der Bahnhof von Carcassonne wird durch den Canal du Midi von der Stadt getrennt. Die Brücke über den Kanal führt über diese Schleuse.

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6-4 Zugang zur Pont Vieux

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6-5 Die Burg von Carcassonne – sieht echt aus wie auf der Spieleverpackung

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6-6 Der lange beschwerliche Aufstieg führt zur Porte de l‘Aude

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6-7 Mittelalterliches Flair im Inneren der Burg

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6-8 Château Comtal

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6-9 Porte Narbonnaise mit Zugbrücke

Pünktlich kommt ein Régiolis in Richtung Perpignan angefahren. Der Zug fährt bis Narbonne über die Hauptstrecke Bordeaux – Marseille und hat dort einen längeren Aufenthalt zum Fahrtrichtungswechsel, bevor er in Richtung der spanischen Grenze von der Hauptstrecke abzweigt. Ich stieg in Narbonne um in einen Zug, der die Fahrt auf der Hauptstrecke in Richtung Avignon fortsetzt. Der Knotenanschluss um 11:00 in Narbonne wird durch zwei entsprechende Gegenzüge, einmal Perpignan – Narbonne – Toulouse und einmal Avignon – Narbonne, zu einem vollwertigen Rendez-Vous-Knoten komplettiert. Ja, auch sowas gibt es in Frankreich! Die Korrespondenzen werden auch von vielen Fahrgästen genutzt. Das Gedränge in der Unterführung erinnerte etwas an Mannheim Hbf zur halben Stunde. Als Anschlusszug wartet eine AGC-Doppeltraktion. Da sich die Treppen komplett im Haltebereich des hinteren Wagens befinden, steige ich natürlich vorne ein. Dort habe ich fast den gesamten Wagen für mich allein. Umso überraschter bin ich, als kurz nach der Abfahrt der Zugbegleiter zur Fahrkartenkontrolle vorbei kommt. Vielleicht hat er einfach keine Lust auf zu viel Arbeit und wählt deshalb den vorderen Zugteil, in dem nur maximal 10% der gesamten Fahrgäste sitzen. Ich hätte mit diesem Zug nun bis Avignon, einem weiteren Zwischenziel der Tagesetappe, durchfahren können. Allerdings wollte ich unterwegs noch einen kleinen Aufenthalt, auch für das Mittagessen, einlegen. Von den Städten, an denen die Strecke vorbei führt, habe ich mir schließlich Sète für eine kurze Besichtigung ausgesucht.

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6-10 Weiter geht es mit einem nicht ganz roten Régiolis nach Narbonne

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6-11 Am Bahnsteig gegenüber fährt zur selben Zeit ein TGV der Relation Lyon – Toulouse ein

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6-12 Korrespondenzanschluss in Narbonne – das rote AGC kommt gerade aus Avignon und übergibt Fahrgäste an die Anschlüsse nach Toulouse und Perpignan

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6-13 Unterwegs fährt der Zug an der Cathédrale Saint-Nazaire über Béziers vorbei

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6-14 Ankunft in Sète – der vordere Wagen ist leider noch nicht modernisiert und deshalb auch innen etwas muffig, dafür aber leer

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6-15 Hinten sieht der Zug schon schöner aus

Sète liegt auf einer Landzunge, die einerseits durch das Mittelmeer und andererseits durch den Étang de Thau begrenzt ist. Die Altstadt wird von zwei langen Kanälen und zwei Querkanälen durchzogen, wodurch Sète zu seinem Beinamen „Klein-Venedig Frankreichs“ kommt. Die Stadt erinnert tatsächlich an Venedig, ist aber wegen des Autoverkehrs nicht direkt damit vergleichbar. Während meines Aufenthalts in Klein-Venedig dreht der Sturm dann richtig auf. So kommt mediterranes Flair mit friesischem Wetter zusammen, denn das Thermometer bleibt im einstelligen Bereich.

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6-16 – 6-18 Klein-Venedig

Nach einer Stunde komme ich ordentlich durchgepustet zurück zum Bahnhof und stelle mich windgeschützt in der Bahnhofshalle unter. Als nächstes will ich mit dem Folgetakt der letzten Fahrt nach Avignon weiterfahren. 10 Minuten vorher sollte planmäßig noch ein IC nach Marseille vorbei kommen. Der steht aber schon mit einer Verspätung von 10 Minuten auf dem Anzeiger, sodass ich mir um meinen Zug langsam Sorgen machen muss. In den nächsten Minuten wächst die Verspätungsprognose des IC dann aber kontinuierlich bis auf +30 an, während mein TER angeblich pünktlich kommen sollte. Ein Blick ins Smartphone verrät: Der IC war mit einer Fahrzeugstörung zwischen Narbonne und Béziers liegen geblieben! Na toll, da kann ich ja lange warten… An dieser Stelle habe ich, den Zustand bei DB Netz kennend, die Flexibilität der französischen Infrastruktur deutlich unterschätzt. Mein TER wurde offenbar über das Gegengleis umgeleitet und kommt am Ende mit nur +8 in Sète an, während dem IC inzwischen +45 vorausgesagt werden. So viel zur Begeisterung einiger Pufferküsser für lokbespannte Züge. Dieser alte Schrott ist in Sachen Komfort und Zuverlässigkeit einfach nicht mehr zeitgemäß! Ich bin übrigens sehr erleichtert, dass mein Zug dann endlich angekommen ist, denn das Warten am Bahnsteig bei teilweise Windstärke 10 ist nicht besonders angenehm.

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6-19 Während der Wartezeit am Bahnhof in Sète saust ein TGV im alten Design (noch nicht inOui) durch

Bis Montpellier können wir die Verspätung etwas reduzieren, sodass wir den Bahnhof Saint-Roch mit +5 um 13:12 wieder verlassen. Die Freude über die gut gemachte Zeit währt aber nicht lange, denn nach zwei Halten werden wir in Lunel auf die Seite genommen. Der Grund dafür ist ein TGV nach Paris, der in Montpellier planmäßig um 13:18 abgefahren war und uns nun überholen sollte. Das wirft uns wieder zurück auf eine Verspätung von 8 Minuten. Unser Tf gibt nach der Durchfahrt des TGV wieder ordentlich Gas, sodass wir dem TGV in Nîmes über eine Minute lang am Bahnsteig gegenüber stehen. Das zeigt, wie unnötig die Überholung gewesen ist: Wären wir durchgehend voraus gefahren, dann hätte sich der TGV dadurch zwei Minuten Verspätung eingehandelt, die er bei der viel zu hohen Haltezeit von 4 Minuten in Nîmes wieder wett machen könnte. Wir wären bis dahin über alle Berge gewesen. Aber nein, auch in Frankreich gilt: Fernverkehr hat Vorrang – egal, wie sinnvoll das im Einzelfall ist! So fallen wir in Nîmes wieder auf +8 zurück, von denen der Tf trotz ambitionierter Fahrweise bis Avignon nichts mehr gut machen kann. Auf diesem Streckenabschnitt sind die Fahrzeiten deutlich straffer geplant.

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6-20 Die Bahnhöfe Beaucaire und Tarascon sur Rhône liegen gerade einmal 800 Meter auseinander und werden nur durch eines getrennt: Die Brücke über die Rhône.

In Avignon muss ich wieder durch den Bahnhof hasten, um meinen Bus zu erwischen. Draußen bleibt aber noch genug Zeit, um eine Fahrkarte am Automaten zu kaufen. Mit dem Bus fahre ich zum Busbahnhof Porte de l’Oulle am gleichnamigen Stadttor. Die Stadt Avignon plant auf dieser Strecke den Bau einer Straßenbahn, die dann auf einer Brücke über die Rhône weiter geführt werden soll. Der bisherige Planungs- und Baufortschritt hält sich aber noch in Grenzen. Durch das Stadttor betrete ich die Altstadt und mache mich auf zum Papstpalast. Ja, ihr habt richtig gelesen! Und nein, ich habe hier keinen Sprung runter nach Rom unterschlagen! In der Tat gab es im 14. Jahrhundert mehrere Päpste in Avignon. Das geht zurück auf den Einfluss des französischen Königs im Konklave der Kardinäle und auf die Kooperation der so gewählten Päpste, die sich nach ihrer Ernennung in Frankreich statt in Rom niedergelassen haben. Den Ansprüchen des Heiligen Stuhls entsprechend wurden die Stadtbefestigung und der Palast im 14. Jahrhundert ausgebaut und sind zum Großteil noch heute erhalten. Daneben gibt es noch eine andere Sehenswürdigkeit in Avignon mit einer interessanten Geschichte: Die Pont Saint Benezet. Die Steinbrücke wurde zur Zeit der Päpste als Verbindung zwischen der Innenstadt und der Vorstadt Villeneuve-lès-Avignon errichtet, hielt aber in den folgenden Jahren den Hochwassern der Rhône nicht stand. Heute stehen von der Brücke nur noch 4 Pfeiler und sie endet an einer Abbruchkante mitten auf dem Fluss. Die Besichtigung der Brücke von oben spare ich mir, da das mit Gepäck sicherheitstechnisch nicht einfach ist und zudem ein ziemlicher Obolus verlangt wird. Ich begnügte mich mit dem Blick von weiter oben.

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6-21 Altstadt von Avignon

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6-22 Palais des Papes

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6-23 Place du Palais

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6-24 Notre Dame des Doms d‘Avignon

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6-25 Pont Saint Benezet – als die Brücke noch stand, befand sich das Ende am anderen Ufer in Villeneuve in etwa auf Höhe des markanten Turms am rechten Bildrand

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6-26 Stadtbefestigung, davor der erste Bauabschnitt der Straßenbahn

Zurück am Bahnhof wartet bereits ein AGC im Design der Region Sud für die Weiterfahrt. Dieser Zug hätte mich direkt nach Marseille gebracht, wo ich mich heute Abend einquartieren wollte. Allerdings fahre ich nur bis nach Miramas mit, denn von dort nach Marseille gibt es noch eine deutlich schönere Strecke. Ich steige also um in einen X-TER. Der X-TER ist die Diesel-Variante des Z-TER, dem wir am 3. Tag zwischen Rennes und Nantes begegnet waren. Zum Einsatz kommt ein zweiteiliger Dieseltriebwagen, der entgegen der Lastrichtung über die gesamte Strecke mehr als ausreichende Kapazitäten bietet. Die dann folgende Fahrt empfand ich später als die schönste der gesamten Reise. Die Strecke führt erst an verschiedenen kleineren Seen wie dem Étang de Lavalduc und dem Étang d’Engrenier vorbei. Zwischen dem Haltepunkt Croix-Sainte und dem Bahnhof Martigues quert die Strecke auf einer Hochbrücke den Canal de Caronte, der für Seefahrer vom Meer die Einfahrt in den innenliegenden großen Étang de Berre ermöglicht. Der schönste Abschnitt der Strecke liegt aber zwischen Carry le Rout und L’Estaque, denn hier führt die Strecke malerisch direkt am Meer an der Côte bleue entlang. Wie der Name schon sagt ist das Wasser dort tiefblau. Insgesamt zeigt die Strecke trotz vieler Tunnel durchgehend mediterranes Nebenbahn-Flair vom Feinsten. Auch wenn die Fahrt eine gute Stunde länger dauert als direkt über den Flughafen Marseille, so ist die Strecke an der Côte bleue absolut sehens- und empfehlenswert. Schließlich fahren wir durch die Gleisanlagen des Frachthafens Euroméditerranée ein in die Stadt Marseille. Nach einer langen Kurve erreicht der Triebwagen den Großbahnhof Saint-Charles an den äußeren Bahnsteigen der nördlichen Nebenhalle.

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6-27 AGC im ZOU!-Design der Region Sud

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6-28 X-TER in Miramas

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6-29 Étang de Lavalduc

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6-30 Querung des Canal du Caronte

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6-31 Malerische Streckenführung direkt an der Küste

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6-32 Auf der anderen Seite der Bucht nähert sich langsam die Metropole Marseille

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6-33 Dreckschleudern in Sicht

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6-34 Aussicht vom Bahnhofsplatz auf die Stadt Marseille

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6-35 Och nö, am nächsten Morgen muss ich da wieder rauf…

6 Tage bin ich jetzt schon unterwegs und bis jetzt ist alles absolut planmäßig verlaufen (Ok, die Baustelle in Belgien einmal ausgenommen, aber das war wenigstens eine planmäßige Fahrplanänderung). Alle Anschlüsse wurden erreicht und keine Fahrt, nichtmal im Stadtverkehr, war mehr als 10 Minuten verspätet. Selbstredend sollte ich nicht immer so viel Glück haben und so würde das Wochenende am nächsten Tag mit viel Ärger beginnen. Am Abend ahne ich davon aber noch nichts und mache noch einen kleinen Ausflug zum Vieux-Port. Ach ja: In einem gar nicht so alten Hit interpretiert Mark Ćwiertnia, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Mark Forster, folgende Textzeile: „Ich war am Hafen Marseilles - aß den Fisch dort direkt aus der See“. Davon würde ich nun wirklich abraten! So schön tiefblau das Wasser an der Côte bleue auch ist, so dreckig sieht die Brühe im Hafenbecken aus, der man die Abgasen der Motorboote und den dort versenkten Müll förmlich ansieht. Da ist der Fisch aus hoher See dann doch eher zu empfehlen.

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6-36 Cathédrale La Major

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6-37 Wofür Marseille eigentlich bekannt ist…

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6-38 Abendliche Stimmung am Wasser – links das Fort Saint-Jean, rechts ein Museum

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6-39 Boote im Vieux-Port, im Hintergrund überragt die Basilique Notre-Dame de la Garde

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6-40 Vieux-Port


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