4.1 Aufbau einer Zugstraße/PEPSI-Prinzip (Allgemeines Forum)

Knochendochen, Freitag, 15.11.2024, 00:49 (vor 396 Tagen) @ Knochendochen

Hallo Liebe Forengemeinde,

nach längerer Pause möchte ich mich mal wieder mit einem Beitrag über den Bahnbetrieb zurückmelden. Nachdem wir im letzten Beitrag die grundsätzliche Funktion von Stellwerken und den Begriff „Signalabhängigkeit“ besprochen haben, möchte ich nun darauf aufbauend auf das PEPSI-Prinzip eingehen. An die CocaCola-Liebhaber: Keine Sorge, es handelt sich hierbei nicht um ein subtiles Product-Placement, sondern um eine Art Checkliste, die abzuarbeiten ist, bevor eine Zugfahrt in einem Bahnhof zugelassen werden darf. Wie schon im letzten Beitrag thematisiert, müssen vorher gewisse Bedingungen erfüllt sein, aber wie genau der Prozess vom erste Handlungsschritt bis zur Fahrtstellung des Hauptsignals abläuft, das möchte ich in diesem Beitrag anhand eines mechanischen Stellwerks erläutern. Die Mechanik eignet sich dafür besonders gut, da dort die die einzelnen Schritte noch gut nachvollziehbar sind, vom Fahrdienstleiter noch selbst durchgeführt werden und nicht hinter irgendwelchen Relais oder Rechnern verborgen sind, obwohl bei diesen Stellwerkstechniken im Grunde die gleichen Prozesse ablaufen, nur eben vieles automatisch vom Stellwerk gemacht wird.

Zugfahrten werden auf Zugstraßen durchgeführt. Da es auch noch Rangierstraßen gibt, verwendet man den Begriff „Zugstraße“ und nicht Fahrstraße. Dieser wäre ein Überbegriff für beides. Laut 482.0009 ist „Zugstraße“ wie folgt definiert:
„Die Zugstraße ist ein technisch gesicherter Fahrweg für eine Zugfahrt. Die technische Sicherung umfasst den Ausschluss aller sicherungstechnisch beeinflussbaren Gefährdungsmöglichkeiten.“
Der Fahrweg ist wiederum:
„Ein Fahrweg ist der aus Fahrwegelementen bestehende Weg zwischen einem Start- und einem Zielpunkt.“

Unter Fahrwegelementen versteht man Weichen, Kreuzungen, Gleissperren, und Gleisabschnitte. Eine Zugstraße sichert also einen Weg von einem Start- zu einem Zielpunkt (Fahrweg), über den der Zug fahren soll, mit denen sich dazwischen befindlichen Weichen, Kreuzungen, Gleissperren, und Gleisabschnitten gegen Gefährdungsmöglichkeiten. Welche Gefährdungsmöglichkeiten können das sein? Zum Beispiel Flankenfahrten, also das seitliche einbrechen eines Fahrzeugs in den Fahrweg eines Zuges. Aber auch Folgefahrten oder Gegenfahrten, sprich Auffahrunfälle oder Frontalzusammenstöße. Auch vor dem Befahren besetzter Gleisabschnitte, ungesicherter Bahnübergänge schützen Zugstraßen, außerdem vor dem Auffahren von Weichen oder dem Umstellen von Weichen unter Zügen.

Wie genau ist eine Zugstraße aufgebaut? Strenggenommen ist die obige Definition nicht ganz akkurat, denn zu einer Zugstraße gehören neben dem eigentlichen Fahrweg, den der Zug befährt noch weitere Elemente, nämlich der Durchrutschweg und der Flankenschutz.

Der Durchrutschweg ist laut Definition „der Abstand von einem Ausfahr- oder Zwischensignal
bis zum maßgebenden Gefahrpunkt“
. Das möchte ich an einem kleinen Beispiel verdeutlichen. Stellen wir uns vor, ein Zug fährt in einem Bahnhof auf ein haltzeigendes Ausfahrsignal ein. Es ist Herbst, die Schienen nass und mit Blättern bedeckt. Durch den verminderten Reibwert verbremst sich der Tf und rutscht über das haltzeigende Ausfahrsignal drüber. Gäbe es den Durchrutschweg nicht, wäre es möglicherweise zu einem Zusammenstoß mit einem hinter dem Ausfahrsignal stehenden Fahrzeug gekommen, oder – noch schlimmer – zu einem Einbruch in eine andere Fahrstraße. Aus diesem Grund gibt es den Durchrutschweg: Man geht davon aus, dass es passieren kann, dass ein Zug über das Ausfahrsignal rüberrutscht und hält deswegen einen gewissen Bereich hinter dem Signal frei, sodass es selbst beim Durchrutschen nicht zu einer Gefährdung kommen kann. Der Durchrutschweg ist in der Regel mindestens 200 Meter lang, kann aber je nach Einfahrgeschwindigkeit oder Neigung auch kürzer oder länger sein. Oft sind für eine Zugstraße auch mehrere Durchrutschwege projektiert, zwischen denen der Fahrdienstleiter wählen kann, um die betriebliche Flexibilität zu erhöhen. Der Extremfall ist ein Stumpfgleis, wie z.B. in Kopfbahnhöfen zuhauf zu finden. Hier gibt es keinen (oder nur einen sehr kleinen) Durchrutschweg, weshalb die Einfahrgeschwindigkeit in der Regel auf 30 km/h begrenzt ist. Noch eine Bemerkung: Bei Ausfahrzugstraßen gibt es keinen Durchrutschweg, weil das nächste Signal ein Block- oder Einfahrsignal ist. Dahinter gibt es zwar auch einen gewissen Bereich, der freigehalten wird, um keine Gefahr bei einem Durchrutschen zu erzeugen, da nennt man es aber – warum auch immer – nicht Durchrutschweg, sondern Gefahrpunktabstand.

„Flankenschutz beinhaltet alle Maßnahmen und Einrichtungen, die verhindern sollen, dass Fahrzeuge seitlich in den für eine Zugfahrt freigegebenen Fahr- und Durchrutschweg gelangen. Flankenschutz kann mittelbar und unmittelbar gegeben werden.“

Der letzte Bestandteil einer Zugstraße ist der Flankenschutz. Wie die Definition schon verrät, werden darunter alle Maßnahmen und technischen Einrichtungen zusammengefasst, welche eine Flankenfahrt verhindern sollen. Das kann eine Weiche sein, die so steht, dass ein darauf zurollendes Fahrzeug in die die jeweilige Zugstraße nicht gefährdende Richtung abgelenkt wird, eine Gleissperre, welche eine unzulässig „losgerollte“ Rangierfahrt entgleisen lässt, bevor sie in eine Zugstraße einbrechen kann, aber auch haltgebietende Signale (Hauptsignale, Sperrsignale oder Ra 11), welche dem Tf Halt signalisieren und so verhindert sollen, dass dieser in gefährlicher Weise in eine bestehende Zugstraße einbricht. Man unterscheidet zwischen mittelbarem und unmittelbarem Flankenschutz. Unmittelbarer Flankenschutz ist alles bisher Beschriebene. Der Flankenschutz wird dabei durch technische Einrichtungen hergestellt. Unter mittelbaren Flankenschutz fallen betriebliche Maßnahmen wie z.B. Rangierverbote, die ausgesprochen werden müssen, wenn der Flankenschutz nicht ausreichend unmittelbar (also durch technische Einrichtungen) hergestellt werden kann. Innerhalb des unmittelbaren Flankenschutzes wird nochmal zwischen direkten und indirekten Flankenschutzeinrichtungen unterschieden. Direkte Flankenschutzeinrichtungen haben direkte Wirkung auf die Bewegung des Fahrzeuges. Dazu zählen Weichen und Gleissperren. Ihrer Wirkung können sich die Fahrzeuge nicht entziehen. Indirekte Flankenschutzeinrichtungen sind haltgebietende Signale. Diese entfalten ihre Wirkungskraft erst durch das Wahrnehmen durch den Tf, und sind somit nicht zwingend, weil der Tf diese Signale bei Unachtsamkeit überfahren könnte, oder – im Falle eines nicht ausreichend gesicherten losrollenden einzelnen Wagens – ein Tf, der reagieren könnte, gar nicht vorhanden ist.

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Mancher hat sich vielleicht schonmal gefragt, welchen Zweck diese Weichen – häufig auf Schnellfahrtstrecken anzutreffen – wohl haben. Diese Weiche ist nicht nur das Paradies für Entscheidungsneurotiker und der Zugang zu Gleis 9 3/4, sondern hat auch noch einen ganz praktischen Nutzen: sie ist Flankenschutzweiche für auf dem durchgehenden Hauptgleis stattfindende Fahrten. Ist dort eine Zugstraße eingestellt, muss die Weiche zur Fahrt nach rechts stehen, um Flankenschutz zu bieten. Ab 160 km/h ist das Vorhandensein von Schutzweichen durch die EBO (Eisenbahnbau- und Betriebsordnung) vorgeschrieben. Dort heißt es in §14 (11): „(…)Der Flankenschutz für Gleise, die mit mehr als 160 km/h befahren werden, muß in Bahnhöfen und auf Anschlußstellen durch Schutzweichen gewährleistet sein.“

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Zugstraßen setzen sich aus dem Fahrweg an sich, dem Durchrutschweg und dem Flankenschutz zusammen und sichern Zugfahrten gegen alle möglichen Gefahren.

Kommen wir nun zum PEPSI-Prinzip. Das PEPSI ist eine Abkürzung für Prüfen – Einstellen – Prüfen – Sichern und beschreibt den Vorgang, wie der Fahrdienstleiter in einem mechanischen Stellwerk eine Zugstraße einstellt. Das Prinzip gib im Wesentlichen die Module 0231 (Fahrweg prüfen) und 0232 (Fahrweg sichern) der Fahrdienstvorschrift wieder, findet sich aber selbst so nicht in der Fahrdienstvorschrift.

Prüfen: Der Erste Schritt beim Einstellen einer Zugstraße ist zu prüfen, ob umzustellende Weichen frei stellbar sind, sprich frei von Fahrzeugen sind. Im mechanischen Stellwerk haben wir keine Gleisfreimeldeanlage, d.h. der Fahrdienstleiter muss diese Feststellung durch aus dem Fenster schauen treffen. Woher weiß der Fahrdienstleiter, welche Weichen und Gleissperren er in welcher Lage für welche Fahrstraße braucht? Das steht im sogenannten Verschlussplan. Dort ist für jede Fahrstraße die dafür benötigte Stellung jeden einzelnen Elements aufgeführt. Davon abgesehen weiß ein erfahrener Fahrdienstleiter das irgendwann auswendig.

Einstellen: Hat der Fahrdienstleiter festgestellt, dass die entsprechenden Fahrwegelemente und Flankenschutzelemente frei stellbar sind, bringt er sie durch Umlegen der jeweiligen Weichen- oder Gleissperrenhebel in die richtige Stellung.

Prüfen: Hier beginnt die eigentliche Fahrwegprüfung. Diese Umfasst 2 Bestandteile: es muss geprüft werden, dass alle Weichen im Fahrweg, im Durchrutschweg und alle Flankenschutzeinrichtungen richtig gestellt sind. Im mechanischen Stellwerk geschieht diese Feststellung, indem der Fahrstraßenhebel für die entsprechende Fahrstraße eingelegt wird. Jede Fahrstraße hat einen eigenen Fahrstraßenhebel (sich gegenseitig ausschließende Fahrstraßen sind manchmal an einem Hebel, bei der einen Fahrstraße legt man den Hebel dann nach oben, bei der anderen nach unten) Die Fahrstraßenhebel sind im Bild die grünen, horizontalen Hebel im Vordergrund. Hinter den Fahrstraßenhebeln befindet sich der Verschlusskasten (hier im Bild nicht zu sehen), der Abhängigkeiten zwischen Fahrstraßenhebeln und Weichen- und Gleissperrenhebeln (die Hebel links im Bild mit den blauen Griffen) herstellt – beide sind mit dem Verschlusskasten mechanisch verbunden. Durch verschiedene mechanische Bauteile wird dafür gesorgt, dass der entsprechende Fahrstraßenhebel sich erst einlegen lässt, wenn alle Hebel in der richtigen Stellung sind. Ist zum Beispiel ein Weichenhebel nicht in der richtigen Stellung, würde Fahrstraßenhebel blockieren. Somit ist festgestellt, dass alle Elemente in der richtigen Stellung sind, wenn sich der Fahrstraßenhebel einlegen lässt. Wenn der Fahrstraßenhebel eingelegt ist, lassen sich die zugehörigen Weichen- und Gleissperrenhebel auch nicht mehr bewegen.

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Der zweite Bestandteil der Fahrwegprüfung ist die Prüfung auf Freisein. Hierzu zählen der Fahrweg, der Durchrutschweg, die einmündenden Gleisabschnitte und der Flankenschutzraum. Die letzten beiden Begriffe sind neu, was hat es damit auf sich? Die einmündenden Gleisabschnitte sind der Bereich zwischen Grenzzeichen einer Weiche oder einer Kreuzung und deren Spitze.
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Das Grenzzeichen sieht so aus und hat gemäß Signalbuch folgende Bedeutung: „Grenze, bis zu der bei zusammenlaufenden Gleisen das Gleis besetzt werden darf“. Wenn z.B. auf dem rechten Strang (vom Betrachter aus gesehen) dieser Weiche eine Zugstraße eingestellt werden soll, muss im Rahmen der Fahrwegprüfung auch geprüft werden, dass auf dem linken Strang bis zum Grenzzeichen nichts steht, da ansonsten der Zug das dort möglicherweise abgestellte Fahrzeug streifen könnte. Der Flankenschutzraum ist der Bereich zwischen einem Flankenschutzelement und dem Grenzzeichen einer Weiche oder Kreuzung, schließt also direkt an die einmündenden Gleisabschnitte an. Im obigen Bild würde der Flankenschutzraum vom Grenzzeichen bis zu einem im linken Strang im weiteren Verlauf folgendem Flankenschutzelement (z.B. einer Weiche) gehen. Wir haben immer noch keine Gleisfreimeldeanlage, also muss die Prüfung auch Freisein auch hier durch aus dem Fenster schauen geschehen. Schließlich muss noch geprüft werden, dass Bahnübergänge im Fahrweg gesichert sind und eventuelle Rangierverbote ausgesprochen wurden.

Sichern: Am Ende des Schritts „Prüfen“ sind zwar theoretisch alle Bedingungen für die Zugfahrt gegeben – alles ist richtig eingestellt und frei – aber es fehlt noch eine zentrale Sache: Es muss sichergestellt werden, dass das auch so bleibt, bis der Zug durch ist. Denn wenn wir im aktuellen Zustand die Zugfahrt zulassen würden, könnten wir einfach den Fahrstraßenhebel wieder zurücklegen und dann eine Weiche umstellen, über die der Zug gerade fährt. Das wäre extrem gefährlich. Wir erinnern uns an den Begriff der Signalabhängigkeit: Ein (Haupt-) Signal darf sich erst dann auf Fahrt stellen lassen, wenn alle zu der betreffenden Zugstraße gehörenden Weichen, Riegel und Flankenschutzeinrichtungen sich in der für die Fahrt erforderlichen Stellung befinden und verschlossen sind, diese solange in dieser Stellung verschlossen gehalten werden, wie sich das Signal in der Fahrtstellung befindet und dass alle zur Zugstraße gehörenden Einrichtungen auch nach Rückstellung des Signals so lange verschlossen bleiben, bis die ordnungsgemäße Auflösung erfolgt ist.“ Den fett gedruckten Teil haben wir bereits erfüllt. Alles danach allerdings nicht. Hier kommt der Schritt „Sichern“ ins Spiel. Im mechanischen Stellwerk bezeichnet man das auch als „blockelektrisch festlegen“ oder „die Fahrstraßenfestlegung betätigen“. Im Bild oben sind das (unter anderem, diese Tasten haben auch noch andere Funktionen) die gräulichen Hebel über den schwarz umrandete runden Feldern, den sogenannten Blockfeldern. Durch Betätigen des der Fahrstraße entsprechenden Blockfelds wird die Fahrstraße blockelektrisch festgelegt. Das bedeutet, dass der umgelegte Fahrstraßenhebel jetzt nicht mehr bewegt werden kann. Dadurch wiederum können auch alle zur Fahrstraße gehörenden Weichen- und Gleissperrenhebel nicht mehr bewegt werde, denn Fahrstraßenhebel und Fahrwegelemente sind ja über den Verschlusskasten mechanisch verknüpft. Diese Festlegung lässt sich erst wieder auflösen, wenn der Zug über einen Gleiskontakt gefahren ist (welcher logischerweise nach dem Weichenbereich liegt), durch Mitwirkung eines anderen Stellwerks der gleichen Betriebsstelle, durch Betätigung einer speziellen Mitwirktaste oder durch eine Hilfsauflösung im Störungsfall. Dass schießt dann aber eine Zählwerksnummer und muss schriftlich dokumentiert werden. Dies trägt dann dem in der obigen Definition nicht fettgedruckten Teil Rechnung, dass die Elemente verschlossen sein müssen und solange verschlossen bleiben müssen, bis eine ordnungsgemäße Auflösung erfolgt ist.

Und das war es auch schon. Alle Bedingungen für das zulassen der Zugfahrt sind gegeben, wir können den Signalhebel umlegen (welcher sich übrigens auch erst jetzt umlegen lässt). Damit ist unsere Arbeit als Fahrdienstleiter erstmal getan, und wir können uns der Zugbeobachtung widmen. Ja, Zugbeobachtung ist eine wichtige Sache. Nachdem viele Fahrdienstleiter fernab in ihren BZen hocken, ist es wichtig, dass die an den Strecken verbliebenen Fahrdienstleiter darauf achten, dass z.B. kein Feuer im/am Zug zu beobachten sind, keine feste Bremse/Heißläufer zu beobachten ist, keine lose Ladung oder offene Türen zu erkennen sind oder kein Gefahrgut austritt. Sonst kommt es irgendwann später vielleicht zu einer Gefährdung.

Die Pause ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn schon bald müssen wir uns der Auflösung der Fahrstraße widmen. Wir haben ja schließlich auch noch andere Züge zu bedienen, da können die Hebel nicht für immer zementiert und festgelegt bleiben…

Wie immer schreibt gerne eure Fragen, Ergänzungen, Korrekturen, Kritik, Vorschläge drunter!

Grüße
Knochendochen


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