Allgemeine Erklärung Unterschied Einstiegs-/ Bahnsteighöhe (Allgemeines Forum)

gsg, Donnerstag, 08.02.2024, 00:14 (vor 221 Tagen) @ J-C

Hallo zusammen,

Weil es mich früher auch immer gewundert hat, warum man zum Teufel Züge mit 590/600mm Einstiegshöhe bestellt, wenn die Bahnsteige doch 550mm hoch sind, hier eine ausführliche Erklärung:

1. These: Bahnsteige haben selten exakt 550mm Höhe
- Auch beim Bau von Bahnsteigen braucht es Bautoleranzen. Auf den Nanometer genau kann niemand bauen. Schon bei Wohnzimmern im Neubau hat man über die ganze Fläche oft Höhenunterschiede bis 2 cm. Auf 220m Bahnsteiglänge wird das entsprechend schwieriger.
- Ein Gleis liegt nach einigen Monaten/Jahren/Jahrzehnten nicht mehr genau in der Lage, in der es einmal gebaut wurde. Der Schotteroberbau ist mit Absicht ein klein bisschen elastisch (deswegen funktioniert er) und mit der Zeit verändert sich die Gleislage.
- Auch eine Schiene hat Verschleiß: Mit jeder Zugfahrt wird ein kleines bisschen des Stahls abgetragen. Insgesamt können das auch fast 20mm sein.

2. These: Züge haben mehrere Faktoren, die auf die tatsächliche Einstiegshöhe Auswirkung haben:
- Radverschleiss: Mit der Zeit beim Fahren und vor allem beim Abdrehen der Räder werden diese kleiner. Das gleicht man zwar (zumindest bei manchen Fahrzeugen) beim Abdrehen durch kleine Unterlegplättchen aus, aber da bleibt doch noch erstaunlich viel Unterschied zwischen abgefahrenen Rädern und neuen Rädern
- die Primärfeder drückt sich abhängig von der Anzahl Fahrgäste im Zug mehr oder weniger stark ein
- die Sekundärfeder ebenso. Falls diese eine Luftfeder ist, kann man das ein bisschen ausgleichen über den Druck, aber einfach ist das nicht
- der Zug wankt ein klein bisschen. An einer Haltestelle (zumindest bei einer U-Bahn) gehen alle Fahrgäste Richtung der Fahrzeugseite auf der die Türen öffnen. Dadurch kippt der Zug leicht in diese Richtung.

Wenn man alle diese Effekte in ihrer Maximalausprägung aufaddiert kommt man in die Größenordnung von 10cm Unterschied zwischen höchstem und tiefstem Fall. Jetzt muss man noch wissen, dass Fahrzeug-Daten in der Regel bei einem Neufahrzeug (also mit grösstem möglichen Raddurchmesser) und einem leeren Fahrzeug (also am wenigsten eingedrückter Feder) angegeben werden. Auch bei solchen Vorführungen wie hier im Thread sind in der Regel diese Verhältnisse gegeben; in der Rushhour nach einigen Jahren im Beitrieb ist die Einstiegskante deutlich tiefer.

Nun würde man auf den ersten Blick sagen, man sollte das Fahrzeug so auslegen dass im Mittelwert der Höhenunterschied zwischen Fahrzeug und Bahnsteig null ist. Aber vor vielen Jahren haben schlaue Menschen analysiert, dass die Gefahr zu stolpern bei einer kleinen Stufe nach oben viel höher ist als bei einer kleinen Stufe nach unten. Das spielt eine besonders grosse Rolle wenn man mal einen Zug evakuieren muss, weil dann jede Sekunde zählt. Deswegen hat man sich darauf geeinigt, dass man es unbedingt vermeiden sollte, in diesem Fall eine kleine Kante nach oben zu haben. Zudem hat die Situation, dass man eher beim Ein- als beim Ausstieg stolpert den Vorteil, dass man dann in Richtung der Haltestangen (die ja im Fahrzeug sind) fällt und sich eventuell auffangen kann.

Aufgrund dieser Überlegungen versucht man das Fahrzeug so auszulegen, dass der Fahrzeugboden in (fast) allen Fällen höher ist als die Bahnsteigkante, aber möglichst wenig höher. Und daraus resultieren dann diese ca. 4-5cm höhere nominelle Einstiegskante als Bahnsteigkante. Und mit der Zeit hat diese Überlegung Eingang in alle Normen gefunden, sodass man es heute auch gar nicht mehr anders machen dürfte.

P.S.: Selbst bin ich mit dieser Designentscheidung nicht ganz einverstanden, ich hätte es anders gemacht. Aber dafür hätte ich vor vielen Jahren in den richtigen Normungsausschüssen sitzen müssen.
P.P.S.: Natürlich haben auch die Fahrzeughersteller ein Eigeninteresse, die Kante so hoch wie möglich zu haben, denn dadurch wird die Konstruktion einfacher (der Längsträger unter der Tür ist sehr oft kritisch für die Gesamtstabilität des Wagenkastens)

Viele Grüsse
gsg


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