ETCS=Stabilisierung, Netzausbau für Kapazitäten! (Allgemeines Forum)

bendo, Dienstag, 25.09.2018, 14:31 (vor 2043 Tagen) @ bigbug21

Doch, kann man. Trotz Computertechnik fahren wir in Deutschland immer noch wie im späten 19. Jahrhundert. Wir wissen nicht so richtig, wo genau unsere Züge fahren und wie schnell. Und selbst die Daten, die vorhanden sind, nutzen wir kaum, geschweige denn für effektive, belastbare Fahrempfehlungen.

Das ist ein Grundübel des heutigen Betriebs, der zigfach täglich darin gipfelt, dass tausende Tonnen schwere Güterzüge routiniert vor einem doch ganz überraschend auf "Halt" stehenden Signal in den Stillstand gebremst und dann wieder angefahren werden könnten. Wie es besser geht, zeigt uns die Schweiz, wo Fahrempfehlungen auf ETCS-Basis beispielsweise im Lötschberg-Basistunnel seit über 10 Jahren genutzt werden, um Züge zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Geschwindigkeit zu haben.

ETCS Level 2 bietet zunächst einmal die Funktionen, die wir von der LZB kennen. Insbesondere können nahezu beliebig kurze Zugfolgeabschnitte gebildet werden (Hochleistungsblock). Mit einer darauf aufsetzenden Automatisierung (ATO Grade 2, mit Triebfahrzeugführer) ließe sich darüber hinaus de facto jeder Zug fernsteuern. Kombiniert man diese Bausteine (ETCS, ATO) nun noch mit einem guten Verkehrsleitsystem (TMS), wird es beispielsweise möglich, Züge mit konkreten Erwartungen an die Bewegung vorausfahrender Züge (und damit der Freimeldung von "Blöcken") bis haarscharf unter ihre Zwangsbremseinsatzkurve zu führen, was allein zu einer Verkürzung von Zugfolgezeiten in der Größenordnung von 50 bis 100 Prozent führen kann, weil die Vorbelegung deutlich verkürzt werden kann. Während heutige LZB-Betriebsbremskurven beispielsweise um die 0,5 m/s² Bremsverzögerung unterstellen, können ICEs durchaus mit dem doppelten dessen bremsen, was aus Verschleiß- und Komfortgründen natürlich der Ausnahmefall sein und bleiben soll. Nichtsdestotrotz würden allein damit auf den Schnellfahrstrecken spielend ICE-Zugfolgezeiten von deutlich unter 120 Sekunden möglich.

Wohl gemerkt: Die Schnellbremsverzögerung braucht nicht in Anspruch genommen werden, so lange belastbare Erwartungen an die Bewegung des vorausfahrenden Zuges vorliegen, wie sie von ETCS geliefert werden. Entgleist jedoch der vordere Zug abrupt (extrem selten) oder versagt die Gleisfreimeldung (sehr selten) oder der Weichenumlauf (sehr selten), kann der nachfolgende Zug immer noch sicher vor dem Gefahrpunkt zum Halt gebracht werden.

Und: Auch das macht uns die Schweiz, in ähnlicher Form, schon längst vor: Mit der "bedingtren Belegungsprüfung" werden physisch noch vom vorausfahrenden Zug belegte Durchrutschwege vorzeitig aufgelöst, wenn das RBC anhand von Positions- und Geschwindigkeitsdaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass der Zug den Abschnitt selbst dann noch räumt, wenn er mit maximal möglicher Verzögerung bremst.

Kombiniert man nun all das mit einem moderaten Infrastruktur, beispielsweise regelmäßigen Überholbahnhöfen mit schnell befahrbaren Überholgleisen, werden auch Vervielfachungen der Leistungsfähigkeit denkbar. Klar ist dabei auch, dass es für eine solche geplante Überholung neben einem Plan A auch Pläne B, C, ... geben muss -- als flexibler Spielraum für eine laufende globale Optimierung, die die Zugfolge auf die jeweilige Überholung optimiert und den nachfolgenden Zug vor der Einfahrweiche der Überholbahnhofs bis kurz unter seine Zwangsbremseinsatzkurve führt.

Zu Ende gedacht könnte ETCS -- in Verbindung mit ATO und TMS -- dabei durchaus "Wunder" bewirken, zumindest Kapazitätseffekte, die kaum jemand für möglich erachtet.

Viele Grüße
Peter

Hallo Peter,

vielen Dank für diese detaillierten Erläuterungen. Wenn das technisch alles möglich ist, wäre es natürlich toll, davon Gebrauch zu machen. Wenn allerdings beim Netz der Status Quo erhalten bleibt, und allein ETCS dazu genutzt wird, den Bahnverkehr auszubauen (d.h. neue Kapazitäten schaffen, entsprechende Einarbeitung in die Fahrpläne etc.), dann sehe ich schwarz! Dieses effizienter gewordene System (z.B. kürzere Zugfolgezeiten) wäre gleichzeitig weniger Robust gegenüber Störungen.
Ich halte es für sinnvoll, ETCS als technische Neuerung dafür einzusetzen, den aktuellen Bahnbetrieb zu stabilisieren und zusätzliche Kapazitäten per Netzausbau zu schaffen.

Gruß, bendo


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