Reform EU-Fahrgastrechte (Fahrkarten und Angebote)

michael_seelze, Freitag, 23.04.2021, 21:23 (vor 1098 Tagen)

Anfang Oktober wurde hier im Forum über die Reform der EU-Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr berichtet.
Die neue EU-Fahrgastrechteverordnung wird zwar erst in mehr als 2 Jahren gelten, dennoch
möchte ich, nachdem der zuständige Ausschuss des Europaparlaments am 16.03.2021 dessen Plenum empfohlen hat, dem am 25.01.2021 vom Rat angenommenen "Standpunkt [...] im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (Neufassung)" (Link) ohne Änderungen zuzustimmen, ein paar Aspekte der vorgesehenen Neuregelung kommentieren:

  • Weiterhin können Mitgliedsstaaten Schienenpersonenverkehrsdienste des Stadtverkehrs, Vorortverkehrs und Regionalverkehrs von der Anwendung einer Vielzahl von Artikeln der Verordnung ausnehmen.
  • Die Definition der Verspätung im Artikel 3 ist gleich geblieben: "Zeitdifferenz zwischen der planmäßigen Ankunftszeit des Fahrgasts gemäß dem veröffentlichten Fahrplan und dem Zeitpunkt seiner tatsächlichen oder erwarteten Ankunft am Zielbahnhof"; hinzugekommen sind u.a die Definitionen der Ankunft als "Zeitpunkt, zu dem die Türen des Zuges am Bahnsteig des Bestimmungsorts geöffnet werden und das Aussteigen gestattet wird" und die des verpassten Anschlusses als "Situation, in der ein Fahrgast während einer in Form einer Durchgangsfahrkarte verkauften Eisenbahnfahrt einen oder mehrere Dienste infolge der Verspätung oder des Ausfalls eines oder mehrerer vorheriger Dienste oder der Abfahrt eines Dienstes vor der planmäßigen Abfahrtszeit verpasst", wobei Dienst seinerseits definiert wird als "Schienenpersonenverkehrsdienst, der zwischen Bahnhöfen nach einem Fahrplan betrieben wird, einschließlich Verkehrsdienste, die für eine Weiterreise mit geänderter Streckenführung angeboten werden".
    Diese Definitionen sind zu begrüßen.
  • Bei einer neuen Bestimmung aus Artikel 6 zu Fahrrädern "Hat ein Fahrgast eine Buchung für ein Fahrrad getätigt und wird die Beförderung des Fahrrads ohne berechtigten Grund verweigert, so hat der Fahrgast Anspruch auf Weiterreise mit geänderter Streckenführung oder eine Erstattung [...] eine Entschädigung [...] und Hilfeleistung" bleibt leider unklar, was einen berechtigten Grund darstellt.
  • In Zugbildungen mit neuen Fahrzeugen und solchen, bei denen eine neue Genehmigung für das Inverkehrbringen von Fahrzeugen notwendig ist, stellen die Eisenbahnunternehmen sicher, dass es eine angemessene Anzahl von Fahrradstellplätzen gibt.
    Angemessen ist noch unbestimmt, aber "die Mitgliedstaaten können für die angemessene Mindestanzahl von Stellplätzen [pro Zugbildung mit den oben genannten Fahrzeugen] bei bestimmten Arten von Diensten eine höhere Zahl als vier festlegen."
  • Hinzugekommen ist in Artikel 7 der Satz "Vertragsbedingungen, die direkt oder indirekt vorgeben, dass die Rechte gemäß dieser Verordnung aufgehoben oder eingeschränkt werden oder davon abgewichen wird, sind für die Fahrgäste nicht verbindlich." Eine gute Ergänzung, wie ich finde.
  • Bei den Informationen, die die Eisenbahnunternehmen dem Fahrgast auf Anfrage vor Fahrtantritt und ohne Anfrage während der Fahrt zu erteilen haben, sind hinzugekommen "Fahrpläne und Bedingungen für alle verfügbaren Fahrpreise", "Verfügbarkeit von Stellplätzen [...]für Fahrräder", "Störungen und Verspätungen (geplant und in Echtzeit)", "Verfügbarkeit von Bordeinrichtungen, einschließlich WLAN und Toiletten" sowie "Informationen vor dem Kauf darüber, ob die Fahrkarte oder Fahrkarten als Durchgangsfahrkarte gilt bzw. gelten." Während der Fahrt ist die Information über Bordeinrichtungen, einschließlich WLAN sowie über "Störungen [...](geplant und in Echtzeit)" hinzugekommen.
  • Die Mitgliedsstaaten können laut Artikel 11, Absatz 4 vorschreiben, dass Fahrkarten ohne Aufpreis im Zug gekauft werden können, wenn es am "Abfahrtsbahnhof keinen Fahrkartenschalter oder keinen barrierefreien Fahrkartenautomaten und keine andere barrierefreie Möglichkeit, eine Fahrkarte im Voraus zu kaufen" gibt.
  • Bezüglich der Durchgangsfahrkarten ist in Artikel 12 bestimmt: "Bei Fahrten, die einen oder mehrere Anschlüsse umfassen, ist der Fahrgast vor dem Fahrkartenkauf darüber zu informieren, ob die Fahrkarte oder Fahrkarten als Durchgangsfahrkarte gilt bzw. gelten." Durchgangsfahrkarten müssen angeboten werden, wenn Fernverkehrs- und Regionalverkehrsdienste von einem einzigen Eisenbahnunternehmen oder 100-prozentigen Tochtergesellschaften eines beteiligten Eisenbahnunternehmens oder von Eisenbahnunternehmen desselben Eigentümers betrieben werden.
  • Bei der Erstattung oder Weiterreise mit geänderter Streckenführung im Artikel 18 ergeben sich einige Änderungen, nicht unbedingt zum Vorteil des Fahrgastes:
    Zum ersten wird der Begriff der "vergleichbaren Beförderungsbedingungen" beibehalten, für den die EU-Komission in ihren leitlinien vom 04.07.2015 bereits erkannt hatte, dass "die Vergleichbarkeit der Beförderungsbedingungen von verschiedenen Faktoren ab[hängt] und [...]von Fall zu Fall entschieden werden [muss]".
    Zum zweiten muss das Eisenbahnunternehmen dem Fahrgast die verfügbaren Optionen für eine Weiterreise mit geänderter Streckenführung binnen 100 Minuten nach der planmäßigen Abfahrtszeit des verspäteten oder ausgefallenen Verkehrsdienstes oder des verpassten Anschlusses mitteilen un die dafür notwendigen Vorkehrungen treffen, wobei dem Fahrgast keine zusätzlichen Kosten entstehen, wenn "eine vergleichbare geänderte Strecke von demselben Eisenbahnunternehmen betrieben wird oder ein anderes Unternehmen mit der Bedienung der geänderten Strecke beauftragt ist," und/oder "wenn die Weiterreise mit geänderter Streckenführung die Beförderung in einer höheren Klasse sowie die Benutzung alternativer Verkehrsmittel einschließt". Erst wenn diese Frist verstrichen ist, ist der Fahrgast berechtigt, "einen [...] Vertrag mit anderen Anbietern öffentlicher Verkehrsdienste mit der Eisenbahn, dem Reisebus oder dem Bus zu schließen [...], die es ihm ermöglichen, den Zielort unter vergleichbaren Bedingungen zu erreichen". Anschließend kann er sich vom Eisenbahnunternehmen, das den verspäteten oder ausfallenden Dienst betreibt, "die dadurch entstandenen notwendigen, angemessenen und zumutbaren Kosten" erstatten lassen.
    Gewissermaßen ist der Fahrgast also auf den guten Willen des Eisenbahnunternehmens angewiesen; denn wann ist eine geänderte Strecke vergleichbar und wer definiert, die Notwendigkeit, Angemessenehit und Zumutbarkeit der entstandenen Kosten bei der Nutzung des alternativen Verkehrsmittels?
  • Die Europäische Komission wird zum Geltungsbeginn der neuen FGR-Verordnung ein einheitliches Formular für Anträge auf Erstattung und Entschädigung erlassen, das jedoch vom Fahrgast nicht genutzt werden muss.
  • Neu ist, dass das Eisenbahnunternehmen den Fahrgast bei der Klarstellung eines von ihm eingereichten Antrages auf Fahrpreisentschädigung unterstützen muss, wenn dieser nicht präzise genug ist.
  • Dann folgt in Artikel 19 Absatz 10 die neue Einschränkung von Entschädigungszahlungen im Zusammenhang mit höherer Gewalt. Vollzitat: "(10) Eisenbahnunternehmen sind nicht zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, wenn sie nachweisen können, dass Verspätungen, verpasste Anschlüsse oder Zugausfälle als direkte Folge von oder in untrennbarem Zusammenhang mit folgenden Umständen aufgetreten sind:
    a) außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegende, außergewöhnliche Umstände wie extreme Witterungsbedingungen, große Naturkatastrophen oder schwere Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die das Eisenbahnunternehmen trotz Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und deren Folgen es nicht abwenden konnte,
    b) Verschulden des Fahrgasts oder
    c) Verhalten eines Dritten wie Betreten der Gleise, Kabeldiebstahl, Notfälle im Zug, Strafverfolgungsmaßnahmen, Sabotage oder Terrorismus, das das Eisenbahnunternehmen trotz Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen es nicht abwenden konnte.
    Streiks des Personals des Eisenbahnunternehmens, Handlungen oder Unterlassungen eines anderen Unternehmens, das dieselbe Eisenbahninfrastruktur nutzt, und Handlungen oder Unterlassungen der Infrastrukturbetreiber und Bahnhofsbetreiber fallen nicht unter die Ausnahme nach Unterabsatz 1 Buchstabe c."
    Eine schwere Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit dürften wir gerade haben.

    Zur Präzisierung dürfte Erwägungsgrund 37 beitragen:
    "Ein Eisenbahnunternehmen sollte jedoch nicht zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet sein, wenn es nachweisen kann, dass die Verspätung durch außergewöhnliche Umstände wie extreme Witterungsbedingungen oder große Naturkatastrophen, die den sicheren Betrieb des Verkehrsdienstes gefährdeten, verursacht wurde. Solche Ereignisse sollten im Unterschied zu normalen jahreszeitlich bedingten Witterungsbedingungen, wie Herbststürmen oder regelmäßig auftretenden städtischen Überflutungen aufgrund der Gezeiten oder der Schneeschmelze, außergewöhnliche Naturkatastrophen darstellen. Darüber hinaus sollte ein Eisenbahnunternehmen nicht zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet sein, wenn es nachweisen kann, dass die Verspätung durch eine schwere Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie beispielsweise eine Pandemie, verursacht wurde. Außerdem sollte das Eisenbahnunternehmen nicht verpflichtet sein, eine Entschädigung für eine Verspätung zu zahlen, die durch den Fahrgast oder durch bestimmte Handlungen von Dritten verursacht wurde. Eisenbahnunternehmen sollten nachweisen, dass sie weder derartige Ereignisse hätten vorhersehen oder vermeiden noch die Verspätung hätten verhindern können, selbst wenn alle zumutbaren Maßnahmen, einschließlich der geeigneten vorbeugenden Instandhaltung ihrer Fahrzeuge, ergriffen worden wären. Streiks des Personals des Eisenbahnunternehmens sowie Handlungen oder Unterlassungen anderer Eisenbahnbetreiber, die dieselbe Infrastruktur, denselben Infrastrukturbetreiber oder dieselben Bahnhofsbetreiber nutzen, sollten sich nicht auf die Haftung für Verspätungen auswirken. Die Umstände, unter denen Eisenbahnunternehmen nicht zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet sind, sollten objektiv gerechtfertigt sein. Wenn Eisenbahnunternehmen über eine Mitteilung oder Unterlage des Eisenbahninfrastrukturbetreibers, einer Behörde oder sonstigen von den Eisenbahnunternehmen unabhängigen Stelle verfügen, in der die Umstände angegeben sind, aufgrund deren das Eisenbahnunternehmen geltend macht, dass es von der Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigung befreit ist, sollten sie die Fahrgäste und gegebenenfalls die betreffenden Behörden über diese Mitteilungen oder Unterlagen in Kenntnis setzen."
    Da dürften dann die Eisenabhnunternehmen mit der Störungsmeldungen von DB Netze als Mitteilung für Umstände, die zur Befreiung von Entschädigungszahlungen führen, ankommen.
  • Bei Verpätungen und auch im Falle eines Zugausfalls haben Eisenbahnunternehmen oder Bahnhofsbetreiber und, wenn ihnen diese Informationen vorliegen, auch Fahrkartenverkäufer und Reiseveranstalter, die Fahrgäste "über die Situation und die geschätzte Abfahrts- und Ankunftszeit des Verkehrsdienstes oder des Ersatzverkehrsdienstes zu unterrichten" bzw. diese Inforamtionen bereitzustellen.
  • Wenn aufgrund einer Verpätung von 60 Minuten oder mehr ein Aufenthalt von mehreren Nächten in einer Unterkunft notwendig wird und die Verspätungsursache unter die Bedingungen nach Artikel 19, Absatz 10 fällt, kann das Eisenbahnunternehmen "die Dauer der Unterbringung auf höchstens drei Nächte begrenzen."
  • Bei einer Unterbrechung eines Verkehrsdienstes wurde verbessert, dass das Eisenbahnunternehmen bereits dann so rasch wie möglich einen alternativen Verkehrsdienst für die Fahrgäste anzubieten und die dazu notwendigen Vorkehrungen zu zu treffen hat, wenn "innerhalb einer vertretbaren Frist keine Möglichkeit" zur Fortsetzung des Verkehrsdienstes besteht.
    Wobei fraglich ist, was eine "vertretbare Frist" ist.
  • Bisher haben die Eisenbahnunternehmen "auf Anfrage des Fahrgasts
    auf der Fahrkarte im jeweiligen Fall zu bestätigen, dass der Verkehrsdienst verspätet war, zum Verpassen eines Anschlusses geführt hat oder ausgefallen ist."
    Künftig müssen die Eisenbahnunternehmen die betroffenen Fahrgäste nur noch darüber informieren, "wie sie eine Bestätigung dafür beantragen, dass der Verkehrsdienst verspätet war, zum Verpassen eines Anschlusses geführt hat oder ausgefallen ist."
    Anstatt einer einfachen Bestätigung auf der Fahrkarte nun also ein Antrag auf eine Bestätigung, da schwant mir böse Bürokratie. Wie und wo eine solche Bestätigung zu beantragen ist, entscheidet also das Eisenbahnunternehmen.
  • Beschwerden im Zusammenahng mit den Fahrgastrechten an ein Eisenbahnunternehmen oder einen Bahnhofsbetreiber sind künftig "innerhalb von drei Monaten nach dem Vorfall, auf den sich die Beschwerde bezieht," bei diesem einzureichen.
  • Die Berichte der Eisenbahnunternehmen über die erreichte Dienstqualität sind künftig nur noch zweijährlich zu veröffentlichen, enthalten aber neu Angaben zu Verpätungen "Verspätungen
    i) Durchschnittliche Gesamtverspätung der Dienste als Prozentsatz nach Dienstart (Fern-, Regional-, Stadt-/Vorortverkehr);
    ii) Prozentsatz der Verspätungen aufgrund von Umständen im Sinne von Artikel 19 Absatz 10;
    iii) Prozentsatz der Dienste, die bei Abfahrt verspätet sind;
    iv) Prozentsatz der Dienste, die bei Ankunft verspätet sind:
    — Prozentsatz der Verspätungen unter 60 Minuten
    — Prozentsatz der Verspätungen von 60 bis 119 Minuten
    — Prozentsatz der Verspätungen von 120 Minuten und mehr"
    sowie detaillierter Angaben zu Zugausfällen "
    i) Zugausfälle als Prozentsatz nach Dienstart (internationaler Verkehr, inländischer Fern-, Regional-, Stadt-/Vorortverkehr)
    ii) Zugausfälle aufgrund von Umständen im Sinne von Artikel 19 Absatz 10 als Prozentsatz nach Dienstart (internationaler Verkehr, inländischer Fern-, Regional-, Stadt-/Vorortverkehr)"
  • Die Arbeit der Durchsetzungsstellen für die Fahrgastrechte wurde genauer geregelt und u.a festgelegt, dass "Eisenbahnunternehmen, Bahnhofsbetreiber und Infrastrukturbetreiber, Fahrkartenverkäufer und Reiseveranstalter den nationalen Durchsetzungsstellen auf Anfrage unverzüglich und spätestens innerhalb eines Monats nach Eingang der Anfrage alle einschlägigen Unterlagen und Informationen zur Verfügung [stellen] In komplizierten Fällen kann die nationale Durchsetzungsstelle diese Frist auf höchstens drei Monate nach Eingang der Anfrage verlängern."
    Beschwerdeverfahren dürfen ab Eröffnung der Verfahrensakte höchstens 3 Monate dauern, in komplizierten Fällen höchstens 6 Monate, bei vom Verfahren umfassten Gerichtsverfahren länger.

Alles ist höhere Gewalt?

JumpUp, Samstag, 24.04.2021, 08:32 (vor 1098 Tagen) @ michael_seelze

Danke für die Zusammenstellung.

Ich bin schockiert, praktisch alles ist nun höhere Gewalt. Die Fahrgastrechte sind damit faktisch tot, jede kleine Verzögerung im Betriebsablauf lässt sich mit "höhere Gewalt" begründen, beispiele sind ja genannt.

Alles ist höhere Gewalt?

GibmirZucker, Samstag, 24.04.2021, 08:53 (vor 1098 Tagen) @ JumpUp

Höhere Gewalt ist hier das eine Problem. Selbst ein Zugausfall wegen durch Überlastung ausgefallen Klimaanlagen ist eine Folge des Klimawandels, also höhere Gewalt.... Die erschwerte Nutzung eines alternativen Beförderers ist ebenfalls problematisch.. Da riskiert niemand mehr in Vorleistung zu gehen. Insgesamt eine massive Verschlechterung. Wäre spannend zu erfahren, welche Länder in der EU diese Schlechterstellungen durchgesetzt haben.

Erschwerte Nutzung eines alternativen Beförderers

michael_seelze, Samstag, 24.04.2021, 10:04 (vor 1098 Tagen) @ GibmirZucker
bearbeitet von michael_seelze, Samstag, 24.04.2021, 10:05

Höhere Gewalt ist hier das eine Problem. Selbst ein Zugausfall wegen durch Überlastung ausgefallen Klimaanlagen ist eine Folge des Klimawandels, also höhere Gewalt.... Die erschwerte Nutzung eines alternativen Beförderers ist ebenfalls problematisch.. Da riskiert niemand mehr in Vorleistung zu gehen. Insgesamt eine massive Verschlechterung. Wäre spannend zu erfahren, welche Länder in der EU diese Schlechterstellungen durchgesetzt haben.

Immerhin kann man auf den nationalen Gesetzgeber hoffen, denn von der Sache mit den 100 Minuten und dem erst dann sich anschließenden Recht auf Vertragsschluss mit anderen Anbietern öffentlicher Verkehrsdienste und dem die dadurch entstandenen notwendigen, angemessenen und zumutbaren Kosten kann national zugunsten des Fahrgasts abgewichen werden: So heißt es in Artikel 18, Absatz 3, Satz 4:

Dieser Absatz berührt nicht die nationale [sic!] Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Fahrgästen günstigere Bedingungen für die Weiterreise mit geänderter Streckenführung gewähren.

.

Problem der fehlenden Definitionen: außergew. Umstände

michael_seelze, Samstag, 24.04.2021, 10:54 (vor 1098 Tagen) @ JumpUp
bearbeitet von michael_seelze, Samstag, 24.04.2021, 10:55

Danke für die Zusammenstellung.

Ich bin schockiert, praktisch alles ist nun höhere Gewalt. Die Fahrgastrechte sind damit faktisch tot, jede kleine Verzögerung im Betriebsablauf lässt sich mit "höhere Gewalt" begründen, beispiele sind ja genannt.

Das Problem sind fehlende, konkrete Definitionen:

Was ist ein außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegender, außergewöhnlicher Umstand?
Dazu gehören als Beispiele

  • extreme Witterungsbedingungen,
  • große Naturkatastrophen
  • schwere Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit

Eine konkrete Definition dieser Begriffe wurde umgangen, indem erklärt wurde, dass
extreme Witterungsbedingungen und große Naturkatastrophen außergewöhnliche Naturkatastrophen darstellen sollten. Irgendwie beißt sich da der Hund in den Schwanz.
Die Auflistung von Beispielen ex negativo; dass es sich dabei nicht um
"normale jahreszeitlich bedingten Witterungsbedingungen wie Herbststürme oder regelmäßig auftretende städtischen Überflutungen aufgrund der Gezeiten oder der Schneeschmelze" handelt, führt auch nicht zu mehr Klarheit.
Herbststürme treten im Herbst auf. Der Herbst umfasst die Monate September, Oktober, November. Was ist mit Stürmen außerhalb dieser Jahreszeit und wann ist der Sturm "normal"? Die Überflutungen aufgrund der Schneeschmelze treten eher in ländlichen Gegenden auf und wann ist eine solche Überflutung dann wieder normal und regelmäßig? Gehört ein sogenanntes 10-jähriges Hochwasser dann dazu?

Zu dem schon genannten Beispiel der Klimaanlagen: Welche Außentemperaturen sind in Deutschland eine "normale jahreszeitlich bedingte Witterungsbedingung"? Immerhin könnte der Satz aus dem Erwägungsgrund 37

Eisenbahnunternehmen sollten nachweisen, dass sie weder derartige Ereignisse hätten vorhersehen oder vermeiden noch die Verspätung hätten verhindern können, selbst wenn alle zumutbaren Maßnahmen, einschließlich der geeigneten vorbeugenden Instandhaltung ihrer Fahrzeuge, ergriffen worden wären.

dazu beitragen, dass Fahrzeugstörungen nicht automatisch zur Befreiung von Plicht zur Fahrpreisentschädigung führen.


Das Problem der fehlenden, konkreten Definitionen wurde auch in einem Artikel in einer ungarischen Zeitschrift (hier S.72) vom Herbst 2020 festgehalten:

In my estimation the proposed solution should be formulated in a clear and unambiguous way, because otherwise, the interpretation of the terms “severe extreme
weather conditions or major natural disasters“, may cause different interpretations
and contribute to legal uncertainty. In order to prevent this, in the Preamble of the
Proposal from 2017 it is stated that the mentioned event should have the character
of an exceptional natural catastrophe, as distinct from normal seasonal weather
conditions, such as autumnal storms or regularly occurring urban flooding caused
by tides or snowmelt. From this, it can be seen that the definition of these terms
is not provided, but instead descriptive guidelines are given as to which cases the
said terms may refer to in order to facilitate their application in practice. The decision to apply a narrow definition of vis majeure was made because it establishes a
fair balance between the interests of passengers and the railway industry.

Wie die Autorin darauf kommt, dass nunmehr eine enge Definition von "höherer Gewalt" angewendet wurde, die zu einem fairen Ausgleich der Interessen von Fahrgästen und Eisenbahnunternehmen führt, erschließt sich mir dennoch nicht ganz.

Ergänzung: außergewöhnliche Witterungseinflüsse lt. DB Netz

michael_seelze, Samstag, 24.04.2021, 12:36 (vor 1098 Tagen) @ michael_seelze

Zur Ergänzung, was DB Netz unter außergewöhnlichen Witterungseinflüssen versteht aus
dem Leitfaden für die Zuordnung von Verspätungskodierungen (420.9001A02), Seite 25f.:

Außergewöhnliche Witterungseinflüsse liegen vor, wenn mindestens folgende Grenzwerte erreicht werden:
Temperatur: ≤ -10°C oder ≥ 30°C
Regen: ≥ 15l/h je m²
Neuschnee in 24h: ≥ 5 cm
Altschnee: ≥ 15 cm
Wind: Ab 62 km/h [...]
Bei Blitzschlag ist immer Abstimmung mit Netzleitzentrale erforderlich.

Interessant: Pflicht für Durchgangsfahrkarten

NymeHess, Sonntag, 25.04.2021, 14:06 (vor 1097 Tagen) @ michael_seelze

"Durchgangsfahrkarten müssen angeboten werden, wenn Fernverkehrs- und Regionalverkehrsdienste von einem einzigen Eisenbahnunternehmen oder 100-prozentigen Tochtergesellschaften eines beteiligten Eisenbahnunternehmens oder von Eisenbahnunternehmen desselben Eigentümers betrieben werden."

Das hieße wohl auch, dass sich in der Praxis der DB-Blätter im TBNE etwas ändern muss. Aktuell können keine Durchgangsfahrkarten von Usedom (DB-Blatt 444) nach Niedaltdorf (DB-Blatt 856) und umgekehrt ausgestellt werden, obwohl alle Züge von der DB betrieben werden.

Die Relation wird vermutlich zwar so gut wie nie vorkommen, aber die aktuelle Umsetzung als Anstoßstrecken mit damit verbundener Einschränkung der Fahrgastrechte ist doch recht umständlich und unnötig.

Grüße
sfasolack

Deutschlandtarif statt TBNE

Zg_2, Sonntag, 25.04.2021, 19:39 (vor 1097 Tagen) @ NymeHess

Hallo,

nach gegenwärtigem Planungsstand soll ab 01.01.2022 der Deutschlandtarif gelten, welcher den TBNE ablösen soll.

Gruß

Zg_2

Interessant: Pflicht für Durchgangsfahrkarten

sibiminus, Sonntag, 25.04.2021, 20:19 (vor 1097 Tagen) @ NymeHess
bearbeitet von sibiminus, Sonntag, 25.04.2021, 20:20

Das hieße wohl auch, dass sich in der Praxis der DB-Blätter im TBNE etwas ändern muss. Aktuell können keine Durchgangsfahrkarten von Usedom (DB-Blatt 444) nach Niedaltdorf (DB-Blatt 856) und umgekehrt ausgestellt werden, obwohl alle Züge von der DB betrieben werden.

Erstens ist mit Vendo Heringsdorf-Niedaltdorf verkaufbar. Wer für die Next DB Beta registriert ist, kann das schon jetzt im Navigator oder auf der Website ausprobieren. Zweitens ist DB Regio committed, mit allen Verkehrsverträgen zum Start des Deutschlandtarifs ins neue Einnahmeaufteilungsverfahren zu wechseln. Allerdings kann es wegen verkehrsvertraglicher Vorgaben oder der unternehmerischen Kalkulation vorkommen, dass einzelne Verkehrsverträge im NE-Tarif spätestens bis zum Vertragsende bleiben. Das DB-Blatt 856 ist meiner Erinnerung ein Fall, bei dem der NE-Tarif in der Ausschreibung vorgegeben wurde. Hab das aber im Detail nicht verfolgt.

Die Relation wird vermutlich zwar so gut wie nie vorkommen, aber die aktuelle Umsetzung als Anstoßstrecken mit damit verbundener Einschränkung der Fahrgastrechte ist doch recht umständlich und unnötig.

Dennoch sind das Themen mit denen sich die DTVG u.a. in den Arbeitsgruppen Anstoßverkehr, International und Fernverkehr beschäftigt.

ein paar Gedanken

sflori, Sonntag, 25.04.2021, 14:30 (vor 1097 Tagen) @ michael_seelze
bearbeitet von sflori, Sonntag, 25.04.2021, 14:33

Danke erstmal für Deine umfangreiche Zusammenstellung. Sehr interessant zu lesen!! :)

FAHRRAD

Bei einer neuen Bestimmung aus Artikel 6 zu Fahrrädern "Hat ein Fahrgast eine Buchung für ein Fahrrad getätigt und wird die Beförderung des Fahrrads ohne berechtigten Grund verweigert, so hat der Fahrgast Anspruch auf Weiterreise mit geänderter Streckenführung oder eine Erstattung [...] eine Entschädigung [...] und Hilfeleistung" bleibt leider unklar, was einen berechtigten Grund darstellt.

Da mach ich mir wenig Sorgen. Das wird wohl darum drinstehen, wenn Du mit irgendeinem unzulässigen Rad ankommst, z.B. Tandem statt Fahrrad oder Mofa statt E-Bike. Ja, ist jetzt konstruiert... also irgendwas nicht passendes. Dürfte in der Praxis in Verbindung mit den FGR selten vorkommen.

Ich frage mich, wie man das mit den ganzen SEV-Bussen macht? Überall lese ich "Fahrradmitnahme nicht möglich".

FREMDES EVU/STRECKE

Gewissermaßen ist der Fahrgast also auf den guten Willen des Eisenbahnunternehmens angewiesen; denn wann ist eine geänderte Strecke vergleichbar und wer definiert, die Notwendigkeit, Angemessenehit und Zumutbarkeit der entstandenen Kosten bei der Nutzung des alternativen Verkehrsmittels?

Gefällt mir gar nicht. Es ist immer die Pest, irgendwelchen Unternehmen hinterher rennen zu müssen. Dass man trotz einer FK für eine Strecke nochmal zahlen muss, weil der ursprüngliche Zug ausfällt und man darum ein anderes EVU nutzt, macht die Bahn nicht gerade attraktiver. Hier sollten die Unternehmen zu einem Ausgleich untereinander verpflichtet werden. Soll doch Flix direkt an DB zahlen oder umgekehrt. Seriennummer als QR aufs Ticket, ZuB scannt, Rechnung an Fremd-EVU. Danke für nichts. ;)

HÖHERE GEWALT

Das überrascht mich SEHR. Ich hatte mit Naturkatastrophen gerechnet. Und ich muss gestehen, wenn es PUs gab, habe ich auch bislang freiwillig auf Ansprüche verzichtet. Aber Kabeldiebstahl, Betreten der Gleise? Das dürfte noch interessant werden, weil der Anspruchspartner ja dann auf einmal direkt der Verantwortliche ist.

Eine schwere Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit dürften wir gerade haben.

Das mag in den ersten Monaten von Corona so gewesen sein. Nach nun über einem Jahr würde ich dem jedoch in Bezug auf den Bahnbetrieb aktuell nicht zustimmen.

FAZIT

Na dann schauen wir mal, wie sich das ganze entwickelt! :) Ist bekannt, ab wann das gültig wird?


Bye. Flo.

Gültigkeit neue EU-Fahrgastrechteverordnung ab Mitte 2023

michael_seelze, Sonntag, 25.04.2021, 15:08 (vor 1097 Tagen) @ sflori

Na dann schauen wir mal, wie sich das ganze entwickelt! :) Ist bekannt, ab wann das gültig wird?

Für den 27.04.2021 ist die zweite Lesung (Debatte) im Europaparlament angesetzt.
Dann muss die Verordnung im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden. 20 Tage später tritt sie in Kraft.
Sie gilt ab 24 Monate nach ihrem Inkrafttreten (außer die Sache mit den Fahrradstellplätzen bei Neufahrzeugen --> 48 Monate).
Ich rechne also frühestens Anfang Juni 2023 mit Gültigkeit der Verordnung. Das macht auch Sinn im Zusammenhang mit Artikel 29 (2):

Eisenbahnunternehmen überwachen die eigene Leistung anhand der Dienstqualitätsnormen. Bis zum 30. Juni 2023 und danach alle zwei Jahre veröffentlichen sie auf ihrer Website einen Bericht über ihre Dienstqualität.

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