Mit dem Deutschlandticket tiefer in den Großen Osten (4/6) (Reiseberichte)

Bahne aus Leidenschaft, Mittwoch, 17.09.2025, 23:05 (vor 92 Tagen)

Am Ende des letzten Teils bin ich in Reims angekommen: https://www.ice-treff.de/index.php?id=720097

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Tag 2.2 Reims und Fismes
Heute bleibe ich fast den ganzen Tag in Reims und kann mal ausschlafen. Erst heute Abend kommt eine kurze Bahnfahrt.
Nicht nur der Bahnhof wurde im 1. Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogen, sondern große Teile der Stadt. Auch die Markthalle stammt aus dem Wiederaufbau und wirkt heute ein wenig überdimensioniert für die paar Stände. Da habe ich schon bessere Märkte in Frankreich erlebt.
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Beim Wiederaufbau der Stadt wetteiferten die großen amerikanischen Industriellen darum, wer der größte Philanthrop sei. Während Carnegie die Art-Déco-Bibliothek im Vordergrund stiftete, finanzierte Rockefeller den Wiederaufbau des Kathedralendachs mit.
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Um 10 Uhr habe ich die „VIP-Tour“ in eben dieses Dach gebucht. Dazu geht es die Treppen hoch bis zur Galerie mit den Königsfiguren oberhalb der Fensterrose. Von hier unten sehen die allegorischen Könige zwar klein aus, sind aber gute 4 m groß. Das ganze Bildprogramm an der Kathedrale drückt ihren Anspruch aus, Krönungskathedrale der französischen Könige zu sein. Die Figur im Zentrum der Königsgalerie zeigt den Frankenkönig Chlodwig bei seiner Taufe hier in Reims im Vorgängerbau.
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So sieht es von oben aus. Während der Großteil der Kirche in der französischen Hochgotik gebaut wurde, zog sich der Bau der Fassade bis in den spätgotischen Flamboyantstil. Eigentlich sollten die Türme noch Spitzen bekommen, aber nach einem Brand des Dachstuhl ging das Geld für dessen Wiederaufbau drauf.
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Dieser zweite Dachstuhl ging dann im 1. Weltkrieg in Flammen auf und das, was ich hier bewundern darf, ist somit schon der dritte. Man hat sich vor 100 Jahren nicht wie aktuell bei Notre-Dame de Paris für einen originalgetreuen Nachbau des Holzdachstuhls entschieden, sondern für eine leichtere und feuerfestere Ausführung in Stahlbeton. Auf Arte gab es nach dem Brand von Notre-Dame vor einigen Jahren einen spannenden Dreiteiler (Notre-Dame, die Jahrhundertbaustelle) über die mittelalterlichen Bautechniken an gotischen Kathedralen, ein Teil davon über das Dach. Leider kann ich diese im Internet nirgends mehr finden.
Gut zu erkennen ist, dass er aus modularen Elementen besteht, die über Steckverbindungen mit Holzriegeln verbunden sind, damit er im Falle einer zukünftigen Invasion von Osten abgebaut und in Sicherheit gebracht werden kann. Als ein Jahr nach Einweihung des Dachstuhls dieser Fall tatsächlich eintrat, hat man sich das dann aber warum auch immer gespart.
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Von der Königsgalerie unter der Chlodwig-Statue kann man bis zur Montagne de Reims mit den Champagner-Weinbergen sehen. Im Stade Velodrome spielt Stade Reims seit diesem Sommer leider nur noch zweitklassigen Fußball, in ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war Reims aber mit 6 Meisterschaften und zwei allerdings verlorenen Europapokalfinalen gegen Real Madrid die französische Übermannschaft und stellte beim 3. Platz bei der WM 1958 den Kern der französischen Mannschaft. Gar nicht so wenige Parallelen zu meinem 1. FCK, der in der 2. Liga seiner großen Vergangenheit und den fünf Weltmeistern von 1954 um Fritz Walter nachtrauert.
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A propos Champagner, in Reims haben zahlreiche namhafte Champagnerhäuser ihren Sitz. Dieses Mosaik zur Champagnerherstellung schmückt einen ehemaligen Weinkeller von G. H. Mumm. Unter anderem bei Mumm kann man auch Führungen mit anschließender Verkostung machen, jedoch zu saftigen Preisen und mein Gastgeber hat mir davon abgeraten.
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Reims wurde noch von den Kelten gegründet und nach der Eroberung durch Caesar nach dem örtlichen Stamm der Remer in Civitas Remorum umbenannt. Unter den Römern war die Stadt als Provinzhauptstadt von Belgica eine der wichtigsten Städte Galliens, wovon der Mars-Triumphbogen zeugt.
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Beim Wiederaufbau nach dem 1. Weltkrieg wurden viele Gebäuden im Art-Déco-Stil errichtet, so auch dieses ehemalige Kino.
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Dann wird es Zeit fürs Mittagessen. Auf Empfehlung meines Gastgebers besuche ich ein ausgezeichnetes Restaurant mit einem bezahlbaren Mittagsmenu. Hauptspeise ist Dorade mit Kartoffelpüree.
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Das Dessert ist ein Café Gourmand mit vier kleinen Leckereien.
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Am Nachmittag suche ich die zweite bedeutende Kirche der Stadt auf. Die ehemalige Klosterkirche Saint-Rémi hat imposante Ausmaße und zeigt sich in einer Mischung aus Romanik und Frühgotik.
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Herzstück der Kirche ist das Grab des hl. Remigius, der als Bischof von Reims den Frankenkönig Chlodwig taufte. Er stammte aus der gallrömischen Oberschicht und soll hier über 70 Jahre lang Bischof gewesen sein und ruht in diesem Monumentalgrab aus der Renaissance.
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Hinter der Kirche zeigt ein Denkmal die Taufszene, die sich an einem Weihnachten um das Jahr 500 abgespielt haben soll. Die Taufe des heidnischen Frankenfürsten und zahlreicher seiner Krieger im katholischen Glauben lokalen Bevölkerung war wohl einer der Hauptgründe für den nachhaltigen Erfolg der Franken, aus deren Reich sowohl die französische als auch die deutsche Nation entstehen sollten. Andere Germanenstämme waren schon viel früher Christen, allerdings überwiegend arianische Christen. Heute mögen uns die zugrundeliegenden Streitfragen über die Natur Christi (ewiger Teil der heiligen Dreifaltigkeit oder von Gott dem Vater geschaffen) kleinlich und irrelevant erscheinen, aber in den anderen kurzlebigeren Germanenreichen auf dem Boden des römischen Reichs wie z. B. bei den West- und Ostgoten und den Vandalen in Nordafrika war dieser Konfessionsunterschied eine nicht zu unterschätzende Barriere und Konfliktquelle der herrschenden Germanen zur alteingesessenen Bevölkerungsmehrheit.
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Um Saint-Rémi liegen viele große Champagnerhäuser wie Veuve Clicquot und Pommery, das diesen schmuckvollen und weitläufigen Hauptsitz hat.
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Zurück zur Innenstadt gehe ich entlang der kanalisierten Vesle.
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Was man auf dem Bild nicht hören kann, direkt hinter der Baumreihe verläuft die ehemalige Autoroute 4 von Paris nach Strasbourg. Mir und vielen anderen dürften deshalb diese Sicht auf die Kathedrale aus der Fahrt in den Frankreichurlaub bekannt sein. Inzwischen hat man die Autobahn zum Glück einige Kilometer nach Süden an den TGV-Bahnhof verlegt und hinter mir ist jetzt nur noch eine Stadtautobahn. Die Idee, eine internationale Transitachse mitten durch die Stadt in Sichtweite der historischen Kathedrale zu bauen, konnte auch nur den verrückten Gehirnen von Verkehrsplanern der 70er-Jahren entspringen.
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Ein wenig muss ich mich nun sputen, denn ich will noch einen kleinen Ausflug mit der Bahn nach Fismes machen. Die Bilder von der Vesle sind dazu eine gute Überleitung, denn die Bahnstrecke dorthin folgt deren Tal. Weder vom Zielort noch von der Strecke dorthin erwarte ich mir größere Sehenswürdigkeiten, aber wenn ich schon mal da bin und das Bahnfahren nichts kostet, will ich gründlich sein.
Nach nicht ganz einer halben Stunde ist der Endpunkt erreicht.
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Viele leere Gleise, wenige Züge 5 – in Fismes.
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Die Strecke bildete bei ihrem Bau eine Einheit mit der Strecke, mit der ich gestern aus Givet gekommen bin und führte sogar noch weiter nach Nordwesten bis Soissons. Dieser Abschnitt ist aber schon seit der großen Stillegungswelle nach Gründung der SNCF 1938 ohne Personenverkehr. An der durchgehenden Kilometrierung von Soissons bis Givet ist das noch zu erkennen. Die zwei aktiven Gleise nach Westen führen deshalb heute nur noch nach Paris, zwischen Fismes und La Ferté-Milon, allerdings seit 2016 ohne Personenverkehr. Dabei spielte vermutlich die Grenze zur Nachbarregion Hauts-de-France eine gewichtige Rolle. Man kennt das Problem ja auch aus der deutschen Nahverkehrspolitik.
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Nach Reims ist der Personenverkehr für den ländlichen Raum in Frankreich aber gar nicht schlecht. Morgens und abends im Berufsverkehr wird im Stundentakt gefahren, jedoch mit zwei vierstündigen Pausen Vormittag und Mittag. Dass ich gerade jetzt fahre ist kein Zufall, denn mein Zug verdichtet den Stundentakt einmal täglich zum Halbstundentakt. Somit habe ich ausreichend Zeit, mir ein wenig den Ort anzuschauen, muss aber nicht eine ganze Stunde bleiben.
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Größte Sehenswürdigkeit scheint das historistische Rathaus zu sein und gegenüber kann man gemütlich ein Bier trinken.
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Um nicht bis 20 Uhr bleiben zu müssen, wird es aber schon wieder bald Zeit, zum Bahnhof zurück zu gehen.
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Zurück in Reims zeige ich mich als besonders gründlicher Streckensammler und nutze ich einen 4-min-Übergang und fahre zum TGV-Bahnhof Champagne-Ardennes durch. Dieser ist im Vergleich zu anderen Bahnhöfen an den französischen LGV mit einer TER- und einer Straßenbahnlinie vorbildlich an den SPNV angebunden. Die TER aus Charleville-Mézières werden hierhin durchgebunden, was werktags mindestens einen Stundentakt ergibt. Dazu nutzen sie die Verbindungskurve von der Bahnstrecke Reims-Épernay zur LGV, die auch die TGV zum Stadtbahnhof Reims nutzen.
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Am Bahnhof ist ziemlich tote Hose. Jahrelang gab es aus Deutschland keine einzige Verbindung hierhin, da alle Züge nach Paris ohne Zwischenhalt von Straßburg oder Forbach bis Paris durchbrettern. Seit letztem Jahr gibt es im Sommer sage und schreibe eine Direktverbindung pro Woche, nämlich das TGV-Zugpaar nach Bordeaux.
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Anstatt fast eine halbe Stunde auf die Rückfahrt des TER zu warten, investiere ich in ein Ticket für die Straßenbahn. Von außen sehen die Wägen so modern und gepflegt aus, dann steigt man ein und muss das sehen. So gut wie alle Sitze sehen so aus und fegen könnte man auch mal.
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Nach etwas über 20 Minuten und einer Fahrt durch die Innenstadt bin ich wieder am Stadtbahnhof.
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Der übrigens von außen so aussieht.
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Ich war zwar heute Mittag schon essen, aber wenn ich schon mal in Frankreich bin, gehe ich noh Abendessen. In einem etwas bodenständigerem Lokal gibt es Boeuf Bourguignon.
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In Frankreich scheinen Lightshows an historischen Gebäuden recht populär zu sein, auch hier gibt es im Sommer eine an der Kathedrale. Diese nimmt mehr oder weniger deutlich Bezug auf die Funktion der Kathedrale als Krönungskirche der französischen Könige. Die letzte Krönung hier war die von Karl X. 1830. Diese Tradition begann nicht direkt mit der Taufe Chlodwigs, sondern erst einige Jahrhunderte später im Hochmittelalter. Ab 1137 waren dann bis auf eine Ausnahme während der Religionskriege alle Krönungen bis zur letzten von König Karl X. im Jahr 1830 hier in Reims.
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Tag 2.3 Laon und Épernay
Heute Morgen bin ich schon zeitig unterwegs nach Laon. Obwohl die Strecke dorthin zu fast drei Vierteln schon in der Nachbarregion Hauts-de-France liegt, gilt zu meiner Überraschung noch das Deutschlandticket. Das will ich nicht unnötig hinterfragen und nutze gerne das Angebot.
Die Fahrt erfolgt recht zügig auf zweigleisiger nicht elektrifizierter Hauptbahn durch die gewohnt öde Landschaft der Champagne und Picardie.
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Der Zug ist überraschend gut gefüllt und auch an den Unterwegshalten findet etwas Fahrgastwechsel statt.
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Die Altstadt von Laon liegt hoch über der Ebene und so ist die Kathedrale schon von Weitem zu sehen.
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Nach einer Dreiviertelstunde ist Laon erreicht. Ein Großteil der Fahrgäste strebt zum Anschlusszug nach Amiens. Mit diesem ungewohnt guten Anschluss bietet sich eine der seltenen sinnvollen Tangentialverbindungen um Paris herum.
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Sehr viele leere Gleise, drei AGC – in Laon.
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Mein AGC fährt hier schon wieder zurück nach Reims. Am rechten Bildrand versteckt sich noch ein besonderes Schmankerl für den schienenaffinen Besucher.
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Altstadt und Kathedrale sind in Luftlinie nicht weit weg vom Bahnhof, aber fast 100 Höhenmeter höher.
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Von 1899 bis 1871 verband deshalb eine Zahnradbahn Bahnhof und Altstadt. Die Zahnstange diente bei maximal 130 ‰ Steigung nur bergab zum Bremsen. Nach 18 Jahren Pause wurde dann auf großen Teilen der alten Trasse die führerlose Kabelbahn Poma 2000 eröffnet, typisch Frankreich natürlich auf Gummireifen. Nach keinen 30 Jahren wurde der Betrieb 2016 schon wieder aus Kostengründen eingestellt und durch Busse ersetzt. Die Talstation versteckt sich in einem Bürogebäude der Verkehrsbetriebe bei dem Busbahnhof am Bahnhofsvorplatz.
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Im Talstation wurde eine neue aufgeständerte Trasse gebaut, die jetzt ihr Leben als überdimensionierte Blumenampel fristet.
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Besonders ärgerlich daran ist, dass wir im Sommer 2015 auf dem Weg in die Normandie mit dem Auto einen Tag in Laon waren und nicht mit der Poma gefahren sind. Ich kann mich sehr wohl an die Bergstation erinnern, aber an keine Fahrzeuge in Betrieb. Vielleicht hat an diesem Tag der Betrieb schon aus technischen oder anderen Gründen geruht.
Das Viadukt ist offensichtlich Teil der ursprünglichen Trasse von 1899. Von hier bis zur Bergstation fuhr die Poma auf der alten Trasse.
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Oben angekommen bietet sich mir dieser Ausblick nach Norden über Unterstadt und Bahnhof. Man könnte meinen, ich sei auf dem letzten Berg vor der Nordsee.
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Die Kathedrale von Laon ist ein recht origineller Vertreter der Frühgotik, die hier im Norden von Paris ihre Ursprünge hatte und wird von den ersten gotischen Fensterrosen überhaupt geschmückt.
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Innen sieht man noch gut, dass wir uns hier ganz zu Beginn der Gotik befinden und noch einige Elemente der Romanik vorhanden sind.
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Laons Geschichte geht wie die von Reims von auf die Kelten zurück. Im Frühmittelalter entwickelte sie sich zu einem bedeutenden fränkischen Königssitz und war im 10. Jahrhundert während des Niedergangs der Karolingerdynastie eines ihrer letzten Besitztümer und Residenz. Als nach dem überraschenden Tod des letzten Karolingerkönigs Ludwig V. 987 statt seines umstrittenen Onkels Karl von Niederlothringen der mächtigere Herzog Hugo Capet zum König gewählt wurde und damit die bis zum Ender der Monarchie in Frankreich 1848 regierende Dynastie der Kapetinger begründet wurde, konnte Karl Laon in Besitz nehmen, geriet aber nach einigen Jahren des Widerstands 991 durch Verrat des Bischofs hier in Laon in die Hände seines Widersachers, womit das endgültige Ende der Dynastie Karls des Großen besiegelt war.
Aus dieser spannenden Zeit ist leider nichts mehr zu sehen. Auch die kleine Templerkirche ist einige Jahrhunderte jünger. Während sie 2015 wegen Baufälligkeit geschlossen war, habe ich hier im Gegensatz zur Poma Glück und kann sie wenige Wochen nach der Wiedereröffnung frisch saniert auch von innen betrachten.
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