Fernverkehrs-Verbindungen in FR und DE im Vergleich (Allgemeines Forum)

lokuloi, Samstag, 01.07.2017, 22:07 (vor 2500 Tagen) @ sb


Man muss sich diese These ja nicht zu eigen machen. Die Argumentation an sich erscheint mir aber schon schlüssig zu sein.


Nein, denn Du unterliegst einem populären Fehlschluss: Nur weil für die heutigen Angebotsstrategien bei keinem der relevanten Verkehrsträger (Schiene, Luft, Straße) sich eine Nachfrage entwickelt, schließt das Erfolge anderer Angebotsstrategien nicht aus.

Danke, ich weiß, was induzierter Verkehr ist. Normalerweise stellt sich der bei neuer Infrastruktur ein. Aber ja: auch durch ein anderes Angebot ist das möglich.

Hierzu ein einfaches Gedankenspiel:

Würden über die Lötschbergbahn (wahlweise via Basistunnel) keinerlei Personenzüge fahren, würde die Nachfrage auf der Bern/Thun/Spiez – Brig/Visp/Zermatt marginal sein, weil nur sehr wenige Fahrgäste den Umweg via Lausanne wählen würden (hoher Wegwiderstand führt zu hohem Zeitwiderstand) und gleiches auch für den Straßenverkehr zutrifft; im Luftverkehr gibt es nur einzelne Helikopter-Verbindungen. Wie allgemein bekannt, gibt es auf dieser Achse dank einem attraktiven Personenverkehrsangebot sehr wohl eine große Nachfrage im Schienenpersonenverkehr.

Ja. In diesem Gedankenexperiment wäre die Lötschbergbahn eine neue Infrastruktur. Auch bevor es diese gab bezweifelte wohl niemand, dass es hier potentielle Nachfrage gibt.


Einer Übertragung dieses Gedankenspiels auf potentielle TGV-Relationen dient der hohe Zeitwiderstand im Ohnefall im Vergleich zu einem geringeren Zeitwiderstand im Mitfall.

Zum einen ging es (mir) bisher ausschließlich um den Ohnefall, schlicht und ergreifend darum, dass im derzeitigen Zustand dort zurecht keine Züge fahren. Dass bei reduzierter Fahrzeit die Nachfrage ansteigt ist dann wiederum trivial.
Zum anderen: Der Zeitwiderstand ist ja heute schon gering: im Flugverkehr. Es ginge also im Wesentlichen um eine Änderung des Modal-Splits, denn der Anteil der Captives ist eher gering. Also, wenn auf einer ca. 1000km langen Verbindung schon heute nur sehr mariginale Flugverbindungen vorhanden sind, sind das nicht unbedingt die prioritären Verbindungen auf der ich mein Angebot ausweite.

Zwar ist die allgemein anerkannte anzustrebende Zielgröße von 3h...4h pro SPFV-Reiseverbindung diejenige mit zumeist eindeutigem Vorteil des Schienenverkehrs gegenüber dem Flugverkehr, jedoch ohne Aussage zum Marktanteil für darüber liegende Reiseverbindungen, insbesondere wenn hierfür Angebote des Flugverkehrs fehlen.

Die Angebote des Flugverkehrs fehlen ja nicht einfach so. Du kannst bei den Wettbewerbsbedingungen im innereuropäischen Flugverkehr davon ausgehen, dass jede Nachfrage auch bedient wird. Die Einrichtung einer Flugverbindung ist relativ einfach: die Infrastruktur ist schließlich schon vorhanden. (Übrigens einer der Vorteile des Flugverkehrs ab einer gewissen Distanz: die Infrastrukturinvestitionen sind von der Entfernung weitgehend unabhängig).

Da ich davon ausgehe, dass bei europäischen Fluggesellschaften Leute arbeiten, die ihr Handwerk verstehen, kann man schon davon ausgehen, dass da wo nichts fliegt, auch keine Nachfrage vorhanden ist.

Das Fehlen von Flugverbindungen in diesem Entfernungsbereich ist also sehr wohl ein Indiz für fehlende Nachfrage.


In Frankreich kommt erfahrungsgemäß hinzu, dass gerade im Sommerhalbjahr viele Urlauber vom Landesinnere an die Küsten fahren und hierfür bereit sind, auch über 4h unterwegs zu sein.

Anstelle der bisher fehlenden TGV-Direktverbindungen wären beispielsweise folgende Maßnahmen (Maßnahmenüberlegungen unvollständig) zu prüfen:

a) Lyon – Bordeaux:
- Einführung eines Taktfahrplans Lyon – Montpellier
- Einführung eines Taktfahrplans Montpellier – (Toulouse) – Bordeaux
- Einführung vertakteter Anschlüsse in Montpellier
- optional ergänzende Anhebung der Streckengeschwindigkeiten auf Ausbaustrecken

Du kannst gerne versuchen die Franzosen von den Vorteilen des Taktfahrplans überzeugen. Die Empirie (und nicht nur die) zeigt jedoch, je größer die Entfernungen, desto wichtiger die Geschwindigkeit und desto unwichtiger die Vertaktung.
Lyon – Bordeaux gab es bereits als Direktverbindung.

Sie werden wohl mit der LGV Bordeaux – Toulouse wiederkommen. Für diese Verbindung wurde (von mir) auch nie die Nachfrage bezweifelt. Hier gibt es (mind.) 6 Direktflüge pro Tag und bei einer Fahrzeit von ca. 5 Stunden ist das eine auch für den MIV noch interessante Entfernung.


b) Toulouse – Nantes:
- Verlängerung der IC Nantes – Bordeaux bis Toulouse
- vollständige Elektrifizierung Nantes – Bordeaux
- optional ergänzende Anhebung der Streckengeschwindigkeiten auf Ausbaustrecken

Auch hier gab es in Zeiten als die ICs in Frankreich noch nicht ICs hießen durchgehende Züge Toulouse – Nantes. Elektrifizierung ist das eine, die Fahrzeit wird dadurch auch nicht attraktiver werden.
Französischer Stil wäre hier ein TGV über Tours…


d) Toulouse – Lille:
- abhängig von weiteren Angebotsverbesserungen (Umweg via Bordeaux – LGV Interconnexion Est vs. Lyon – LGV Interconnexion Est)
- ggf. als Anschlussverbindung mit kurzem Umstieg in Marne-la-Vallée-Chessy (oder dergleichen)
- optional ergänzende Anhebung der Streckengeschwindigkeiten auf Ausbaustrecken

Auch diese Verbindung gab es bereits, interessanterweise sowohl „untenrum“ über Lyon als auch „obenrum“ über Bordeaux. Trotz verbesserter Infrastruktur in Form der LGV Sud Europe Atlantique wurde dieses Angebot zurückgenommen.

Die vorhandene Nachfrage wird über die Direktflüge abgewickelt. Auch durch weitere Ausbauten wird es hier keine signifikanten Modal-Split-Verschiebungen geben, da die Fahrzeit im Vergleich zum Flug hoch bleibt.

Umsteigeverbindungen mit Umstieg außerhalb Paris‘ gibt es übrigens durchaus, beispielhaft:


+-------------------------+--------+--------+----------+----------------+
| Bahnhof                 |   An   |   Ab   | Zug Nr.  | Bemerkungen    |
+-------------------------+--------+--------+----------+----------------+
| Lille Europe            |        |  06:05 | TGV 5200 |RP GP BW RO 1.  |
| Bordeaux-St-Jean        |  10:52 |  11:02 | TGV 8503 |RP GP BW 97 2.  |
| Toulouse-Matabiau       |  13:11 |        |          |                |
+-------------------------+--------+--------+----------+----------------+
| Fahrzeit: 7:06;   
|


Diese sind jedoch langsamer als mit Umstieg in Paris, da die Verbindungen Bordeaux – Nicht-nach-Paris die Unterwegshalte zwischen Bordeaux und Paris mitnehmen.
Unbenommen davon kann man natürlich die Umsteigebeziehungen hier noch verbessern. Nur: in Marne-la-Vallée-Chessy bringt das nur eingeschränkt etwas, da es derzeit eben keine TGVs von Toulouse nach Marne-la-Vallée-Chessy gibt. Gäbe es diese würden sie höchstwahrscheinlich nach Lille weiterfahren.

Fazit:

Ein Teil des mangelnden SNCF-Zugangebotes ließe sich auch schon kurzfristig lösen, ein anderer Teil erst mittel- oder tatsächlich nur langfristig.

Ich fürchte die SNCF sieht das anders, was die kurzfristigen Lösungen angeht, sie sieht dort wohl kein Problem.

Ciao,
Uli


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