Ein Hauch musikalischer Reisekultur: Ein Klavier im Bahnhof (Reiseberichte)

JumpUp, Dienstag, 02.07.2013, 20:17 (vor 4542 Tagen)

Guten Abend,


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In Eile, wie die meisten Reisenden betrete ich den Bahnhof von Strasbourg und halte auf einmal inne. In der Ferne nehme ich die süßen Klänge eines französischen Kinderliedes wahr, was kann dies nur sein? Wird in den französischen Bahnhöfen Musik abgespielt?
Welch Überraschung! Man hat einfach ein Klavier mit der Aufschrift "Für Sie zum Spielen bereit" in eine Ecke des Bahnhofs gestellt...


Huch? Ich halte an und schaue mir das genauer an. In meiner einstündigen Umsteigezeit wollte ich eigentlich die Eisenbahn genießen, aber was ich dort erlebt habe, ist wirklich einzigartig.
An dem Klavier treffen sich willkürlich Menschen jeder Nation - Reisende die sich bisher noch nicht kannten, und können (wie von der sncf gewünscht) ganz spontan zusammen musizieren. Mal alleine und mal vierhändig sitzen die Fahrgäste am Klavier und vertreiben sich mit Konzerten für Jedermann die Umsteigezeit. Mal hören zehn Menschen, mal hört der gesamte Bahnhof mit - je nachdem wer welches Lied spielt...

Musikstudenten, Väter mit ihren Töchtern, Opa auf Heimreise, jeder setzt sich irgendwann mal ran und spielt vor sich hin, der eine introvertiert, der andere genießt es im Rampenlicht und bekommt tobenden Applaus.

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Ich war begeistert! Wie man aus einer schäbigen Ecke am Bahnhof mit einem Klavier den Treffpunkt der Menschen, ja die kulturelle Hochburg Frankreichs werden lassen kann!

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Mal hört man Klassik, mal Jazz und Rock'n'Roll und gelegentlich singen die herumstehenden Passanten sogar mit - immer spontan und immer wunderbar!

Die Klaviere stehen an allen größeren Bahnhöfen in Frankreich verteilt, ich habe sie gleich mehrmals erleben dürfen (Paris, Marseille und an einigen anderen Orten).

Selbst in London hat man nun eins hingestellt :)

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Besonders bemerkenswert ist bei den stundenlangen kostenlosen Konzerten, die ich mir in allen Ecken unseres Nachbarlandes anhören durfte, dass es niemanden gibt, der voller Frust ohne jegliche Begabung einfach nur auf das Klavier einhämmert. Stets haben sich Menschen an das Klavier gesetzt, die auch tatsächlich etwas von der Musik verstanden haben.

Dadurch war die Musik immer angenehm, nie nervig oder störend. Da die Bahnhöfe sowieso dem Verkehrslärm ausgesetzt sind, kann man die Musik auch nur in unmittelbarer Nähe des Klaviers hören, wer sie nicht mag, wird auch nicht belästigt!

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In Deutschland bestimmt undenkbar

worfie, Dienstag, 02.07.2013, 21:03 (vor 4542 Tagen) @ JumpUp

Das ist wirklich eine schöne Aktion.

Schade nur, dass es in Deutschland nur schwer möglich ist, so etwas anzubieten, da sich sofort die Mafia auf den Plan gerufen fühlt, Schutzgeld für die Klaviere zu erpressen :(

http://www.tz-online.de/aktuelles/muenchen/gema-will-geld-aktion-muenchen-jeder-klavier...

Ein Hauch musikalischer Reisekultur: Ein Klavier im Bahnhof

SanSiro230501, Dienstag, 02.07.2013, 22:20 (vor 4541 Tagen) @ JumpUp

In London St. Pancras war ich kürzlich auch erstaunt, als ich im Bahnhof von Weitem offensichliche Live-Klavier-Musik vernehmen durfte. Auch hier wurden die Klaviere nur von Leuten benutzt, die sie auch "allgemeinverträglich" bedienen konnten. Viele Reisende blieben stehen und lauschten der Musik.

Glücklicherweise konnten mich meine Mitreisenden trotz des ein oder anderen vorher konsumierten Bierchens nicht dazu überreden, mein Ein-Finger-Alle-meine-Entchen zum Besten zu geben...

Ein Hauch musikalischer Reisekultur: Ein Klavier im Bahnhof

Mario, Dienstag, 02.07.2013, 22:34 (vor 4541 Tagen) @ JumpUp

Solch eine Aktion gab es vor kurzem mal in München, wo in der ganzen Stadt 14 Klaviere aufgestellt wurden: http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.kunst-fuer-alle-ab-jetzt-stehen-14-klaviere-...

Ne klasse Idee.

Ist ja genial!

AX-330, Dienstag, 02.07.2013, 23:05 (vor 4541 Tagen) @ JumpUp

Die Idee gefällt mir richtig gut. Frei zur Verfügung stehende Instrumente sind klasse und erzeugen sozial vorteilhafte Effekte - und ein Klavier im Bahnhof kann doch, wenns richtig bedient wird, aufgrund der ungewohnten Atmosphäre von Euphorie über Gänsehaut fast alles auslösen, hauptsächlich aber allen Wartenden die Zeit intensiver vertreiben als ein Kaffee in der Lounge oder ne Schrippe beim Fleischer.

An dem Klavier treffen sich willkürlich Menschen jeder Nation - Reisende die sich bisher noch nicht kannten, und können (wie von der sncf gewünscht) ganz spontan zusammen musizieren. Mal alleine und mal vierhändig sitzen die Fahrgäste am Klavier und vertreiben sich mit Konzerten für Jedermann die Umsteigezeit.

Also ne gute spontane Vierhändigkeit hätte ich ja gern mal gesehen und gehört :-)

Wobei anzumerken ist, daß Mißbrauchsmöglichkeiten unendlich bestehen. Als leidlicher Cellospieler und völlig unfähiger Pianist kriege nicht nur ich mit ein paar Bier im Rücken nen Flohwalzer samt "Gesang" lautstark genug hin, und wenn DB Sicherheit fragen kommt, warum ich mit voller Wucht und allen vieren wahllos auf den armen Kasten einzimmere, kann ich mich blendend damit rausreden, daß ich gerade Bartók spiele.

Hinzu kommt dann diese alte Masche aus Westernfilmen, bei denen gerne das Clavizimbel aufgeklappt und Bier hineingefüllt wird. Das ist lustig, aber doof für ein der Allgemeinheit zur Verfügung stehendes Bahnhofsklavier. Und Leute wie ich würden es, das muß ich ehrlich zugeben, in der richtigen clownesken Stimmung, machen.

Okay, so weit kann ich mich gerade noch beherrschen. Ich spiele nicht, ich schütte nicht, ich höre nur zu und würde Frankfurt/Main Hbf mit spontaner Klaviermusik beseelt viel besser finden als ohne. Wobei - wenn ich mir meine Warnweste anziehe und dann mit ernstem Gesicht ganze Fünfliterfässer vom Roßmann in den Klimperkasten schütte, möchte ich aber sehen, daß mich da einer nach dem Sinn meines Tun fragt. Mit Warnweste darf man hierzulande alles!

Andreas,
der immer Klavier lernen wollte - knapp 100 Tasten und drei Pedale halt 8-)

Ist ja genial!

oppermad, Wuppertal/Wunstorf, Dienstag, 02.07.2013, 23:47 (vor 4541 Tagen) @ AX-330

Moin,

[...] kann ich mich blendend damit rausreden, daß ich gerade Bartók spiele.

diese Argumentation ist auch mir als Violinenspieler geläufig. Seine Stücke (soweit mir bekannt) waren "gewöhnungsbedürftig", aber bei Musizierstunden bot seine Musik dadurch gewisse Vorteile;-)

Den Ursprungsbeitrag halte ich für sehr interessant. Einerseits gibt es in Frankreich sanfte Musik, zugleich läuft die Polizei nach meiner Erinnerung zumindest in Paris mit Maschinenpistolen Streife; welch ein Kontrast!

Freundliche Grüße,

Dirk

Ist ja genial!

AX-330, Mittwoch, 03.07.2013, 00:15 (vor 4541 Tagen) @ oppermad

diese Argumentation ist auch mir als Violinenspieler geläufig. Seine Stücke (soweit mir bekannt) waren "gewöhnungsbedürftig", aber bei Musizierstunden bot seine Musik dadurch gewisse Vorteile;-)

Streicher und Bartók - das muß auch schiefgehen. Am Klavier (und wenn ne Kapazität dransitzt) wird das Tun dieses Menschen erst verständlich, find ich - aber wir sind hier ja kein Föjetong.

Den Ursprungsbeitrag halte ich für sehr interessant. Einerseits gibt es in Frankreich sanfte Musik, zugleich läuft die Polizei nach meiner Erinnerung zumindest in Paris mit Maschinenpistolen Streife; welch ein Kontrast!

Soweit ich das sehe, trägt in Frankreich auch kein Arsch Warnweste im Gleisbereich, darum beneide ich die Kollegen manchmal. Auf der anderen Seite ist das für Franzosen wahrscheinlich völlig normal, daß dort mit MP im Bahnhof Streife gelaufen wird - wir machen das nur, wenn unser Innenminister schlecht auf Klo war.

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