ICE1 mit 280: Was bringts wirklich? (Allgemeines Forum)
Hallo,
nachdem wir an der Uni momentan eh viel mit Simulationsprogrammen zu tun haben, bot es sich an, mal obiger Fragestellung nachzugehen: Wieviel Zeit gewinnt man, wenn man einen alten ICE1 auf 280 prügelt? Mit Stift und Taschenrechner lassen sich wenig aussagekräftige Berechnungen anstellen, sodass man für eine sinnvolle Aussage auf ein Simulationsprogramm zurückgreifen muss.
An der TU Dresden steht mit Opentrack ein zeitschrittbasiertes Bahnbetriebssimulationsprogramm zur Verfügung, das sehr gut fahrdynamische Problemstellungen abbilden kann.
In diesem Prgramm habe ich einmal exemplarisch die Strecke Hannover-Göttingen eingegeben, hier wird ja gerne mal 280 gefahren, denn zwischen Göttingen und Kriebergtunnel sind rund 30 km für 280 freigegeben, dazu kommen einige kürzere Abschnitte. Die Streckendaten standen als Excel-Liste zur Verfügung und bestanden aus zulässiger Vmax, Gradienten, Bogenradien und entsprechenden Kilometerangaben. So konnte die Strecke relativ genau abgebildet werden.
Als Fahrzeug hab ich den ICE1 hergenommen und das aus der Literatur bekannte Zugkraft-Geschwindigkeits-Diagramm mit entsprechender Fahrwiderstandskurve hinterlegt. Bis zur Übergangsgeschwindigkeit bei 92 km/h sinkt die Zugkraft von 400 kN auf 375 kN ab. Danach wird sie durch die 9,6 MW Leistung am Rad begrenzt. Bedingt durch das absinkende Kippmoment des Fahrmotors zwischen 250 und 280 muss die Fahrmotorspannung und damit auch die Leistung abgesenkt werden. Raus kommt folgender Verlauf, der im Simulationsprogramm hinterlegt wurde:
![[image]](http://www.abload.de/img/f-v-diagrammice1mys9.jpg)
Als Bremsverzögerung wurden konstant 0,6 m/s² angenommen, das Zuggewicht mit 804 t. Zur Energieberechnung wurde dem Zug ein konstanter Wirkungsgrad von 0,82 unterstellt. Im Anfahrbereich hat man zwar kleinere Wirkungsgrade, aber da diese Abschnitte im Fahrzyklus sehr gering sind, dürfte man mit 0,82 nicht groß daneben liegen.
Nachdem nun Strecke und Fahrzeug modelliert sind, konnte die Zugfahrt simuliert werden. Ich habe dabei jeweils eine Zugfahrt für 250 und 280 für jeweils beide Richtungen laufen lassen bei einer Schrittweite von 0,1 s.
Folgende Geschwindigkeits-Weg-Verläufe ergeben sich:
![[image]](http://www.abload.de/img/hh-hgv-shbs9.jpg)
Hannover-Göttingen
![[image]](http://www.abload.de/img/hg-hhv-sb9jm.jpg)
Göttingen Hannover; Fahrtrichtung im Diagramm von rechts nach links
Man sieht, die 280 werden zwar erreicht, allerdings nur auf langen Abschnitten und da dauert es ganz schön. Bedingt durch das Gefälle kann im Fahrtrichtung Hannover-Göttingen auf längeren Abschnitten 280 gefahren werden. Schön zu sehen sind auch einige Geschwindigkeitseinbrüche unter 250, die der starken Steigung geschuldet sind.
Wenn man einen Blick auf die Fahrzeit wirft, fallen die Resultate recht ernüchternd aus. Folgende Diagramme zeigen den gefahrenen Weg über der Zeit. Die unterschiedlichen Endpunkte von roter und blauer Linie drücken die Fahrzeitersparnis aus:
![[image]](http://www.abload.de/img/hh-hgs-tnzu4.jpg)
Hannover-Göttingen
![[image]](http://www.abload.de/img/hg-hhs-tjzta.jpg)
Göttingen-Hannover
In absoluten Zahlen ergibt sich in Fahrtrichtung Hannover-Göttingen eine gesamte Fahrzeitersparnis von 37 Sekunden bei einer Gesamtfahrzeit von 29:23 min bei 250 km/h. In der umgekehrten Richtung sind es 43 Sekunden bei 29:06 min Fahrzeit bei 250 km/h. Nicht gerade viel, wenn man sich dem gegenüber die Energiebilanz ansieht:
![[image]](http://www.abload.de/img/hh-hge-srxs3.jpg)
Hannover-Göttingen
![[image]](http://www.abload.de/img/hg-hhe-svyoh.jpg)
Göttingen-Hannover
Leider kann das Simulationsprogramm keine Energierückspeisung berücksichtigen, daher sind obige Verläufe irreführend. Auch die absoluten Zahlen werden so in der Praxis nicht stimmen, sind aber dennoch interessant: Insgesamt kostet die Raserei in Fahrtrichtung Hannover-Göttingen 543 kWh bzw. 16% mehr Energie. In der umgekehrten Richtung sind es 695 kWh oder 24%! Würde man die Rückspeisefähigkeit mit reinrechnen, und überschlägt man, dass der Zug zwischen 250 und 280 km/h eine elektrische Bremskraft von rund 120 kN hat und in der Simulation 804 t wiegt, erreicht man damit eine Verzögerung von rund 0,15 m/s². Bei geforderten 0,60 m/s² Verzögerung kann man somit rund 1/4 elektrisch Bremsen. Über den Daumen gepeilt würde damit der zusätzliche Energiebedarf für die 280 km/h um rund 1/4 sinken. Die 280 km/h würden somit "nur" 12% respektive 18% mehr Energie benötigen ;-)
Fazit: 12% / 18 % mehr Energiebedarf bei 2,1% / 2,4% Fahrzeitersparnis ;-)
Dabei ist natürlich noch zu berücksichtigen, dass das Simulationsprogramm eigentlich zu optimistisch rechnet. Einerseits werden systembedingt Fehler bei der Berechnung gemacht, denn für einen Zeitschritt von 0,1 s werden alle Variablen als konstant angesehen, was sie natürlich nicht sind. Im Grunde werden stets eine zu hohe Zugkraft und ein zu geringer Fahrwiderstand angesetzt - bei Schrittweiten von 0,1 s ist das allerdings nicht sehr schlimm.
Viel mehr dürfte ins Gewicht fallen, dass das System jede Mögliche Beschleunigungsphase ausnützt. Nur wenige Lokführer werden wirklich die gesamte Fahrt über die AFB auf 280 stehen lassen und eine "ruckelige" Fahrt zulassen, bei der ständig für nur wenige 100 m beschleunigt und dann gebremst wird.
Hinzu kommt, dass das Simulationsprogramm keine Regelzeiten für Zugkraft und Bremse kennt: Hier werden die Zug- und Bremskraft praktisch sofort von 0 auf maximal gesetzt - in der Realität wird weich auf- und abgeschaltet bzw. sind die Ansprech- und Lösezeiten der Bremse zu berücksichtigen.
Alles in allem fällt damit die Bilanz für die Fahrzeitersparnis noch dürftiger aus ;-)
--
Grüße,
Sese
![[image]](http://img.aachen-im-bild.de/brueckebelgien.jpg)
![[image]](http://www.abload.de/img/hhe_280d7iz.jpg)