[ZM] 2. Stammstrecke München kommt oder auch nicht (Allgemeines Forum)

ThomasK, Dienstag, 25.10.2016, 14:24 (vor 2712 Tagen) @ Paladin

Was sagen denn die Experten hier zu der geplanten zweiten Stammstrecke?


Die Zweite Stammstrecke in Form eines Tieftunnels ist genauso ein Schwachsinnsprojekt wie Stuttgart 21. Hier zeigt sich einmal mehr die totale Unfähigkeit der Politik eine vernünftige Verkehrsplanung durchzuführen.

Verkehrsplanung besteht nicht darin, ohne Hirn und Verstand einfach Linien einzuzeichnen, sondern darin, bestehende Systeme zu optimieren und anhand angebots- und nachfrageorientierter Parameter unter Berücksichtigung planerischer und ökonomischer Sachzwänge ein Gesamtsystem zu entwickeln.

In den einschlägigen Standardvorlesungen bekommen die Studenten zunächst die Grundlagen der Verkehrsplanung vermittelt.

Zunächst einmal wird das Planungsdreieck erläutert. Das Planungsdreieck zeigt die Abhängigkeit von Zugangebot (Fahrplan), Gleisinfrastruktur und Fahrzeugen auf. Bei einem Planungsvorgang sind stets alle 3 Komponenten gleichzeitig zu betrachten.

Anhand der Einwohnerentwicklung, Siedlungsstruktur und anderen Rahmenbedingungen legt man zunächst fest, welchen Fahrplan man im Zielkonzept fahren will. Ausgehend von dieser Ecke des Planungsdreiecks wird in Abhängigkeit dazu ermittelt, welche Infrastruktur und welche Fahrzeuge (Fahrdynamik, Kapazität) man dazu benötigt, um den gewünschten Fahrplan fahren zu können.

Hierbei gilt die Regel:

Organisation vor Elektronik vor Beton.

Zur Zielerreichung werden zunächst organisatorische Maßnahmen (Zugabfertigung, Zugdisposition, Wagenumlaufplan) vorgeschlagen. Kommt man hiermit nicht zum Ziel, so werden in der nächsten Stufe elektronische Maßnahmen (Leit- und Sicherungstechnik) geprüft. Erst dann, wenn auch dies nicht ausreicht kommt als Ultima Ratio Beton zum Einsatz, also neue Gleise und ganz zuletzt, wenn alles nichts mehr hilft, neue Überwerfungsbauwerke und Tunnels.

Was macht die Bayerische Staatsregierung? Ohne genau zu wissen, welchen Fahrplan man später überhaupt fahren will, fängt man mit der teuersten Maßnahme an, ohne das Gesamtsystem zu betrachten! In der Uniklausur würde es dafür eine glatte 5 geben.

Hier übrigens noch ein paar Anmerkungen:

In der Hauptverkehrszeit fahren 75% aller S-Bahn-Züge als Vollzug (2 * ET 423) durch die Stammstrecke und nicht als Langzug (3 * ET 423).

Der Marktanteil des ÖPNV in der Münchner Innenstadt beträgt 90% und am Stadtrand etwa 25%, sodass in der Münchner Innenstadt die Marktsättigung erreicht ist. Im am stärksten belasteten Querschnitt Hauptbahnhof - Hackerbrücke sind heute täglich etwa 230000 Fahrgäste unterwegs. Das ist exakt dieselbe Belastung, wie sie auf der U-Bahn zwischen Marienplatz und Odeonsplatz auftritt. Die U-Bahn hat 120 m lange Bahnsteige, die S-Bahn jedoch 210 m. Warum einen zweiten Tieftunnel bauen, wenn der erste noch nicht einmal ausgelastet ist?

Demzufolge will die Bayerische Staatsregierung auch die heute fahrenden Züge einfach auf beide Tunnels verteilen, was zu längeren Taktintervallen führt. Grotesk ist es dann für die Fahrgäste zwischen Marienplatz und Marienhof hin- und her zu laufen; beide Bahnhöfe liegen nämlich 250 m voneinander entfernt.

Weitgehend parallel zur S-Bahn-Stammstrecke verläuft zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof etwa 500 m nördlich die U4/5, die - im Gegensatz zur U3/6 - noch Kapazitätsreserven hat, da deren Querschnittsbelastung bei etwa 130000 Fahrgästen anstatt 230000 Fahrgästen liegt.

Der S-Bahn-Tieftunnel würde also die parallel verlaufende U4/5, die noch Kapazitätsreserven hat, ENTLASTEN, und die senkrecht verlaufende U3/6, die keine mehr hat, zusätzlich BELASTEN.

92% aller Störungen bei der S-Bahn-München entstehen übrigens auf den Außenästen; nur 8% auf der Stammstrecke.

Bei einer zweiten Stammstrecke auf dem Südring würde sich eine Querschnittsbelastung dort von etwa 85000 Fahrgästen ergeben. Eine Aufteilung der S-Bahn-Züge zwischen erster Stammstrecke und Südring von etwa 33 : 6 Zügen pro Stunde und Richtung wäre also nachfragegerecht.

Der Tieftunnel verlängert die Umsteigezeiten übrigens enorm. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der LH München hat eingeräumt, dass die Umsteigezeit zwischen S-Bahn Hbf Tief 2 und der U-Bahn 7 Minuten beträgt, da keine direkten Fußgängertunnel möglich sind.

Außerdem erzwingt der Tieftunnel zusätzliche Umsteigevorgänge, da zwischen Laim und Ostbahnhof nur noch am Hauptbahnhof und am Marienhof gehalten wird.

Es würde den Rahmen hier bei weitem sprengen, würde ich auf weitere Planungsfehler (fehlende Kapazität auf den Außenstrecken, keine Kompatibilität zwischen 15-Minuten-Takt und Infrastruktur sowie zwischen Express-S-Bahnen und Infrastruktur, zu nahes Heranrücken des Tieftunnels an die Frauenkirche usw.) eingehen.

Haarsträubend auch die Aussage, dass ein Südring zu mehr Umsteigern führen würde. Genau das Gegenteil ist der Fall! Selbstverständlich wird der erste Tunnel nicht zugeschüttet und alle Außenbahnhöfe bleiben mindestens im 20-Minuten-Takt umsteigefrei mit dem ersten Tunnel verbunden. Der Südring würde aber die U3/U6 zwischen Marienplatz und Poccistraße entlasten, was bei 220000 Fahrgästen dort auch sinnvoll ist.

Ich verweise hier auf ein Presseinterview, welches ich vor einigen Jahren gegeben habe:

Seite 4: Die Planung für den zweiten Tunnel hat dramatische Fehler

http://www.tunnelaktion.de/presse-files6/101006-MuenchnerForum%20standpunkte_2010_10.pdf

Die Münchner ÖPNV-Szene ist sich ja im Hinblick auf den ÖPNV-Ausbau oft sehr uneinig, aber der S-Bahn-Tieftunnel ist so ein haarstäubendes Unfugprojekt, dass sich ausnahmsweise alle mal einig sind: Dieser Mist muss vor Gericht unbedingt verhindert werden. Übrigens sind auch diejenigen, die ihr Geld mit dem Tieftunnel verdienen, derselben Meinung. Nur laut sagen dürfen sie es natürlich nicht.


In der Hamburger Verkehrspolitik läuft ja vieles bei weitem schlechter als in der Münchner Verkehrspolitik: Keine Straßenbahn oder Stadtbahn, schlechterer Modalsplit, viel zu billiges Parken, 180 Grad Halbkreisfahrt mit der U4 zwischen Jungfernstieg und Hafencity bei 3 km Haltestellenabstand in der Innenstadt usw.

Aber bei der S-Bahn schlägt Hamburg München deutlich. In Hamburg hat man zwei Stammstrecken in einem idealen Abstand von 1,5 - 2 km und durch das Entzerren der beiden S-Bahn-Stammstrecken wird auch die Verknüpfung zur U-Bahn entzerrt, denn der Umsteigeverkehr wird nicht konzentriert über eine Stammstrecke abgewickelt, sondern über jeweils zwei und verteilt sich auf das Hamburger Viereck (Sternschanze und Dammtor vs. Landungsbrücken und Jungfernstieg). Auch fährt man auf den Hamburger S-Bahn-Außenästen grundsätzlich einen lupenreinen 10-Minuten-Takt, was wir in München auch wollen.

So ein absurder Quatsch wie Express-S-Bahn wird in Hamburg noch nicht einmal diskutiert.

Wie gesagt: Im Bereich des ÖPNV allgemein verliert Hamburg gegen München haushoch, aber bei der S-Bahn kann München von Hamburg sehr viel lernen.


Ich gehe nach wie vor davon aus, dass der S-Bahn-Tieftunnel in München scheitern wird. Sollte die Politik uneinsichtig bleiben, beginnt im Frühjahr 2017 die verwaltungsgerichtliche Auseinandersetzung, bei der der Bayerischen Staatsregierung alle Planungsfehler um die Ohren gehauen wird. Ein Stuttgart 21 wollen wir in München ganz sicher nicht haben.

Von meinem Blickwinkel aus (der zugegeben ziemlich weit weg ist), finde ich es relativ fragwürdig, einfach einen parallelen Tunnel mit den gleichen Haltestellen zu graben, um die Stammstrecke zu entlasten.


Völlig korrekt.

Da fand ich andere Vorschläge, wie z.B. einen S-Bahn Ring deutlich sinnvoller - Berlin zeigt, dass das auch durchaus sehr attraktiv sein kann. Ob man das so auf München übertragen kann, vermag ich jedoch nicht zu bewerten.


Südring ja, Nordring nein.

Ganz kurz: Der Nordring ist viel zu weit von der Innenstadt entfernt, um wirtschaftlich betrieben werden zu können. Deshalb muss in dem Trassenkorridor eine Straßenbahn auf dem Frankfurter Ring gebaut werden.

Hinzu kommt, dass der Nordring nicht mit der U-Bahn verknüpft werden kann. Außerdem verläuft der Nordring siedlungsfern und dient in erster Linie dem Güterverkehr. Das Fahrgastaufkommen auf dem Südring ist etwa dreimal so hoch wie auf dem Nordring.

Also eine Kombination aus erstem S-Bahn-Tunnel und Südring (als Halbring) ist für München ideal. Anstelle des Nordrings ist eine stadtbahnmäßig ausgebaute Straßenbahn auf dem Frankfurter Ring die bei weitem bessere Wahl.

Wenn man beispielsweise zwischen Moosach und Johanneskirchen mit dem 54 m langen 6-teiligen Avenio alle 5 Minuten als Straßenbahn auf dem Frankfurter Ring entlang der Trasse des Metrobusses 50 fährt, kann man direkt die U-Bahnhöfe Frankfurter Ring (U2) und Studentenstadt (U6) erreichen. In Johanneskirchen kann man dann in die S8 und in Moosach in die S1 umsteigen. Die Wendeschleife der Straßenbahnlinie 20 in Moosach, die direkt vor dem S-Bahnhof und vor dem Einkaufszentrum Meile Moosach liegt, kann ohne Probleme mitbenutzt werden. Auch ist in Moosach ein direkter Umstieg zur U-Bahnlinie 3 gegeben. Wir prognostizieren für diese Straßenbahn täglich etwa 25000 Fahrgäste.


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